Beziehung statt Erziehung

Letzte Lektion Liebesentzug – wer in Sachen Erziehung ausschließlich auf emotionales Einverständnis setzt, begibt sich auf gefährliches Terrain

«Beziehung statt Erziehung» lautet ein trendiges pädagogisches Konzept. Jede Form von Strenge erscheint wie Manipulation. Dabei wird gerne übersehen, dass auch in autoritätslos scheinenden Beziehungen verdeckte Zwänge wirken. Und nicht zu knapp.

Von Margrit Stamm, erschienen in der Tageszeitung „Neue Zürcher Zeitung“ am 01.12.2020

Die Kosten des Liebesentzugs sind hoch, weil er das Selbstwertgefühl des Kindes beschädigt und ihm durch Manipulation sein Ungenügen vor Augen führt.

Autorität gilt als «böses» Wort, Erziehung als Manipulation, zumindest in neuen Bewegungen, welche Nichterziehung oder die alleinige Orientierung an den kindlichen Bedürfnissen proklamieren. Eigentlich verständlich. Autorität ist ein schwieriger Begriff, und wir alle haben Erfahrungen mit ihr. Wer selbst autoritär erzogen worden ist, will alles dafür tun, um nicht ein Abbild der strengen Eltern oder des angsteinflößenden Paukers zu werden. Autorität wird deshalb mit Drill, Angst und konservativem Denken gleichgesetzt und im Widerspruch zu Freiheit und Selbstbestimmung gesehen. Trends wie #beziehungstatterziehung gelten als neue Alternativen.

Erziehungsstile sind zu Lebenshaltungen geworden und werden oft wie politische Ideologien verfolgt. Dies ist ein Grund für den moralisch aufgeladenen Diskurs, der die Krise der Autorität überdeutlich macht. Dabei werden die Konzepte der bedürfnisorientierten Nichterziehung oft niederkomplex dargestellt, weil sie unbeabsichtigte Auswirkungen auf die Kinder ausblenden. Auch eine Beziehung, die ohne Erziehung und Autorität funktionieren will, kann verdeckte Zwänge beinhalten.

Verhandlungshaushalt statt Befehlshaushalt

Autoritätsstrukturen haben sich gewandelt. Familie und Schule sind kaum mehr herrschaftsförmig organisierte, sondern kindzentrierte Formen von Zusammenleben und Ausbildung. In der Familie hat der Verhandlungshaushalt den Befehlshaushalt abgelöst, in der Schule geht es verstärkt um Selbstorganisation und Demokratielernen. Dies ist eine vielversprechende Entwicklung, die aber auf ein stützendes Gerüst der Erziehung angewiesen ist. Kleine Kinder und junge Schüler brauchen einen strukturierenden Umgang mit Erwachsenen, der sie davon entlastet, selbst bestimmen zu müssen, was für sie gut ist. Starke Eltern fordern deshalb die Einhaltung von Regeln, akzeptieren die Kinder als ernst zu nehmende Gesprächspartner und geben ihnen viel Liebe und Unterstützung.

Liebesentzug ist die wirksamste und schärfste, aber oft unbewusste Form von Strafe mit großem Gefahrenpotenzial.

Ein solcher autoritativer Erziehungsstil gilt als besonders entwicklungsförderlich. Autoritativ meint weder autoritär noch «anything goes», sondern die Schaffung des Fundaments für eine gesunde psychische und physische Entwicklung. Ein autoritativer Erziehungsstil verzichtet auf Zwang, gewährt aber viel Freiheit, um Kinder zu Eigenständigkeit und Mündigkeit zu führen. Dahinter steckt die Überzeugung, dass in jeder erzieherischen Situation aufs Neue pädagogische Autorität entsteht. Anderes gilt für Konzepte der bedürfnisorientierten Nichterziehung oft niederkomplex dargestellt, weil sie unbeabsichtigte Auswirkungen auf die Kinder ausblenden. Auch eine Beziehung, die ohne Erziehung und Autorität funktionieren will, kann verdeckte Zwänge beinhalten.

Anderes gilt für Konzepte der bedürfnisorientierten Nichterziehung, welche auf die gleichberechtigte Behandlung der Kinder setzen. Sie sollen sich ohne Zwang entwickeln und Verantwortung für sich selbst und die eigenen Entscheidungen übernehmen, und zwar unabhängig vom Alter. Mit ihrer Kreativität, ihrem Selbstbewusstsein und ihrer intrinsischen Motivation gelten sie als diejenigen, welche unsere Welt in Zukunft braucht. Dies sind eindrückliche Ziele, denen kaum zu widersprechen ist. Doch sie berücksichtigen zu wenig, dass gerade in solchen Beziehungen oft auf verdeckte Zwänge zurückgegriffen wird, die mit Manipulation einhergehen können. Drei Beispiele: der Liebesentzug, die Verstrickung von Schulnoten und Elternliebe sowie die mit Dauerüberwachung einhergehende Eltern-Kind-Beziehung.

Mechanismen des Liebesentzugs

Der Liebesentzug ist eine verdeckte Erziehungsstrategie. Weil autoritätsfreie Lebenshaltungen als modern gelten, versuchen Eltern, sich egalitär zu verhalten. Doch geschieht dies oft unter Zuhilfenahme von widersprüchlichen Mechanismen des Liebesentzugs. Er gehört zu den psychologischen Kontrollstrafen und wird aufgrund seines manipulativen Charakters massiv unterschätzt.

Liebesentzug zeigt sich in Strategien wie Desinteresse am Kind signalisieren, abwertende Bemerkungen machen, ihm Verantwortung zuweisen, weil man so viel für es tut, oder seine Präsenz ignorieren. Dazu kommen neuere Formen von Liebesentzug, etwa, wenn Kinder jeden Abend vom Babysitter zu Bett gebracht werden, weil die Eltern so viel arbeiten, oder wenn kranke Kinder allein zu Hause bleiben müssen. Die Kosten des Liebesentzugs sind hoch, weil er das Selbstwertgefühl des Kindes beschädigt und ihm durch Manipulation sein Ungenügen vor Augen führt, psychisch, intellektuell und sozial. Liebesentzug ist die wirksamste und schärfste, aber oft unbewusste Form von Strafe mit großem Gefahrenpotenzial.

Das zweite Beispiel ist die Verknüpfung von Schulleistung und Elternliebe. Dominiert Beziehung statt Erziehung, ist das Kind oft der kleine König, dessen Eltern alles für es tun, sich mit seinen Noten identifizieren und bei Misserfolgen der Schule die Schuld zuschieben. Doch im Grunde genommen sind die Eltern vom Kind enttäuscht, weil seine Leistungen nicht ihren Erwartungen entsprechen.

Kinder lernen sehr schnell, welches die Agenda der Eltern ist. Finden sie heraus, dass gute Leistungen für Mama und Papa so wichtig sind, legen sie sich wie Seismografen die Überzeugung zurecht, dass sie ihre Liebe und Anerkennung nur gewinnen können, wenn die Noten stimmen. Dieser verdeckte Zwang scheint zwar autoritätslos und empathisch, doch spätestens, wenn es ums Gymnasium geht, schlägt die Bedürfnisorientierung in einen direktiven Erziehungsstil um. Kinder geraten dadurch in einen Teufelskreis unglaublichen Ausmaßes.

Im dritten Beispiel geht es um die permanente Kontrolle der Kinder, welche Ausdruck unserer Angst- und Risikogesellschaft geworden ist und auf manche Familie übergegriffen hat. Vordergründig scheint die Strategie, auf Beziehung statt auf Erziehung zu setzen, bestens zu Kontrolle und Überwachung zu passen. Denn wer die Grenzen zum Kind verwischt, dauernd mit ihm im Austausch sein will und es auch im Schulalter noch permanent unter Kontrolle hat, vermittelt ihm, dass dies nur zu seinem «Schutz» geschieht. Es handelt sich jedoch eher um eine verdeckte Manipulation, weil so die Kontrolle über das Kind aufrechterhalten werden kann, ohne dass man Autorität ausüben muss. Die Entschlossenheit, ganz dicht und immerzu am Kind dran zu sein, führt zu einer neuen Form von Einmischung, Überwachung und Normierung.

Richtige Balance

Solche Verhaltensweisen sind rechtlich umstritten. Netzwerke für Kinderrechte, Kinderanwaltschaften oder Datenschutzbeauftragte verweisen auf das Recht der Kinder auf Privatsphäre, das in der Uno-Kinderrechtskonvention festgehalten ist. Dieses Recht schützt Kinder vor Eingriffen in ihr Privatleben, aber auch vor solchen der Eltern. Deshalb dürfen Väter und Mütter nicht ohne Erlaubnis persönliche Sachen der Kinder durchsuchen, Telefongespräche abhören oder Briefe lesen. Ein allgemeines Beziehungs- und Sicherheitsbedürfnis der Eltern reicht nicht aus, um ein Kind permanent zu kontrollieren.

Autorität ist zwar eine ungeliebte Haltung, doch lässt sie sich kaum mit Strategien der bedürfnisorientierten Nichterziehung umgehen. Auch gutgemeinte humanistische Praktiken können autoritätslos scheinende Zwänge und Manipulationen beinhalten. Zwar kommen sie verdeckt zum Zug, doch beeinträchtigen sie die Psyche der Kinder und machen sie von den Eltern abhängig. Das Paradoxe daran ist, dass dies auch für Eltern gilt, weil sie sich zu sehr mit ihren Kindern identifizieren und sie nicht loslassen können.

Genauso wie der Mensch nicht als roher Klotz auf die Welt kommt, der mit Autorität und Disziplin geschliffen werden kann, machen Trends wie #beziehungstatterziehung aus Kindern noch lange keine mündigen Menschen. Wo immer dauerhafte Beziehungen eingegangen werden, entstehen soziale Ordnungsstrukturen, ob man will oder nicht. Das gilt für Schule und Familie, für Sport, Musik und das Vereinsleben. In solchen Settings agieren nicht Gleiche in partnerschaftlichen, sondern in asymmetrischen Beziehungen, zumindest gilt das für das Kindesalter. Dazu gehört auch die Unvermeidlichkeit eines partiellen Rückgriffs auf zustimmungsunbedürftige erzieherische Maßnahmen. Diese schlichte Einsicht nicht zu beachten und deshalb pädagogische Autorität zu negieren, ist ein großer Irrtum.

Autorität und Freiheit sind keine Gegensätze, doch sie müssen in der richtigen Balance sein. Hannah Arendt hat es so formuliert: «Autorität schließt den Gebrauch jeglichen Zwangs aus, und wo Gewalt gebraucht wird, um Gehorsam zu erzwingen, hat Autorität immer schon versagt.» Anstatt Autorität zu leugnen, ist es an der Zeit, sie in ein neues Erziehungsverständnis einzubetten, das dem gesellschaftlichen Wandel Rechnung trägt und Kinder auf ihrem Weg zur Lebenstüchtigkeit stärkt.

Margrit Stamm ist emeritierte Professorin für Erziehungswissenschaften an der Universität Freiburg i. Ü. Zuletzt ist 2020 erschienen: «Erziehung – Väter – Mütter» (Piper-Verlag).