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Bildungspanik: An der Förder-Front

Dreijährige singen „Yes, I am very small“, Vorschüler besuchen Ökonomiekurse. Für Förderprogramme geben Eltern Millionen aus. Experten sprechen von Bildungspanik.

An der Förder-Front

Im Sprachcenter von Helen Doron sitzen die Kinder im Schneidersitz, blaue Taschen mit Büchern fürs „Early English“ neben sich. Heute sind nur Mädchen da, das jüngste ist drei, das älteste fünf Jahre alt. Sie tragen glitzernde T-Shirts mit Prinzessin-Motiv, und unter den Schuhen steht zum Teil noch Größe 29. „Hello girls„, ruft die Kursleiterin. Sie heißt Anda und ihr Job ist eine Mischung aus Animateurin und Erzieherin. Die Mädchen wiegen sich mit ihr zur Musik, sie singen: „Yes I’m very small.“ Sie zeigen auf ihre Nase, Finger und Knie und ringen mit Vokabeln. Der Marktführer Helen Doron bietet sogar ein Englischtraining für drei Monate alte Säuglinge an.

Laura*, ein blasses Kind, steht abseits, sie versteckt ihr Gesicht im Kissen. Es geht ihr scheinbar zu schnell. „Are you happy oder sad?“, fragt Anda. Laura schweigt, Theresa und Mathilda tanzen um sie herum. Die Mädchen verstehen schon einfache Fragen auf Englisch, können „one, two, three, four, five little fingers“ zählen, den Befehl „please make tiny steps on blue colour“ auf der Hüpfmatte ausführen. Begeisterung, Ratlosigkeit und Staunen zeigt sich im Wechsel auf ihren Gesichtern.

Die Zeit zwischen Geburt und Abitur, sagt Buchautor Klaus Werle, sei zu einer „Mischung aus Wettrüsten und Leistungsschau“ mutiert. Damit die eigenen Kinder nicht im Wettbewerb von anderen abgehängt würden, versuchten Eltern ihr Heranwachsen früh zu steuern. Drei Mütter sitzen im Wartezimmer des Sprachcenters auf Rattansesseln und plaudern. „Meine Tochter konnte sich in der Schule durch den Kurs einen Vorsprung sichern“, sagt eine mit rot geschminktem Mund und taxiert die Runde. Die andere: „Ich nehme meine Tochter jetzt bald aus dem Kurs, in der Schule sind die weiter.“ Die dritte: „Meine Tochter soll mit ihren Cousinen aus New York sprechen können, Englisch brauchst Du doch heute.“

Hinter dem Spaß lauert die Angst

In den Kursen wird nicht gepaukt, sondern gelobt, ermuntert, gespielt. Positive reinforcement nennt das Richard Powell, der Deutschlandkoordinator von Helen Doron. Die Eltern in seinem Sprachcenter geben sich auch locker und sagen, dass sie schon mal eine Stunde ausfallen ließen, wenn das Kind keine Lust habe.

Doch hinter all dem Spaß lauert eine tiefe Angst. In der Studie Eltern unter Druck schreibt die Konrad-Adenauer-Stiftung: Bereits die breite Mittelschicht grenze sich massiv nach unten ab. Abstiegsangst sei die Ursache. Kinder verschiedener Schichten seien heute wie durch eine Kontaktsperre getrennt. Der Soziologe Heinz Bude spricht sogar von Ghettoisierung und Bildungspanik, denn die Eltern denken heute: Der beste Freund meines Kindes soll nicht aus der Unterschicht kommen. Auf dem Spielplatz sollen keine Gestalten lungern, die Bier trinken.

Kontaktsperre zwischen Kindern verschiedener Schichten

Also ziehen sie in vermeintlich bessere Viertel, schicken ihre Kinder in gute Schulen. Ansteckungsangst nennt Bude das. Kinder müssten aber auch andere Lebensweisen kennen, findet er. Es brauche „belastbaren Pluralismus“, damit Kinder Sozialkompetenz erlernen könnten.

Über eine Milliarde Euro pro Jahr gaben engagierte Eltern in Deutschland für die Zusatzbildung ihrer Kinder aus, dazu gehört allerdings auch Nachhilfe. Eine aktuelle Studie enthüllt, dass jedes dritte Grundschulkind in Deutschland angibt, unter Schulstress und Leistungsdruck zu leiden. Kritiker orakeln bereits, dass Mütter vielleicht auch deswegen so viel förderten, weil sie selbst viel für ihre Kinder aufgegeben hätten. Für den Soziologen Heinz Bude ist die Bildungsversessenheit Zeichen großer Verletzlichkeit. Besonders Eltern, die selbst Bildungsaufsteiger seien und weder Festanstellung noch Immobilienbesitz weiter vererben könnten, verlören häufig die Lockerheit, sagt er, wenn es um die Zukunft ihrer Kinder gehe.

Die Förderwelle ist auch aus Amerika hierher geschwappt: FasTracKids, etwa „Kinder auf der Überholspur“ mit Sitz in Denver, unterrichtet inzwischen auch in Deutschland Fächer wie Biologie, Astronomie und Kunst, aber auch Lebensstrategien, Kommunikation, Theater und Technik. Vorschulkinder reisen virtuell zum Amazonas und lernen mithilfe eines Teddys, dass man nicht mehr Taschengeld ausgeben kann, als man hat (Ökonomie). Sie halten Referate, die gefilmt und besprochen werden.

Die Mutter beobachtet auf dem Monitor, wie ihr Kind lernt

Eine Mutter sitzt im Wartezimmer von FastTracKids in Hannover und starrt auf den Bildschirm an der Wand. Über den Monitor sieht sie ihr Kind im Klassenraum. Es besucht den Kurs Wunder der Natur. FasTracKids gilt als eines der ehrgeizigsten Frühförderprogramme auf dem Markt. Der Kursleiter steht vor einer interaktiven Tafel. Gerade hat er die vier bis sechs Jahre alten Kinder gefragt, warum es an der Türklinke manchmal zucke, Magnetismus für Vorschulkinder steht auf dem Plan.

Der Kinderpsychologe Michael Winterhoff nennt die Haltung vieler Eltern Katastrophenmodus. Viele Erwachsene kämen heute selbst nicht mit den Veränderungen klar. Vom Analogen zum Digitalen mit Facebook, Twitter, der Dauererreichbarkeit auf dem Handy. Seine Diagnose: Die Eltern sind gehetzt wie der Hamster im Laufrad und geben diese Unruhe an ihre Kinder weiter. Der Kinderarzt und Erziehungsexperte Remo Largo sieht in den Kursen ein verheerendes Signal ans Kind, nämlich: „Du bist da, um unsere Erwartungen zu erfüllen.“ Sie griffen ein ins normale Entwicklungstempo der Kinder und könnten es – derart bevormundet – sogar unselbstständig machen.

Der FasTracKids-Lehrer schaut auf die Uhr, da meldet sich eine Fünfjährige: Ob das normal sei? Sie öffnet den Mund, streckt ihre blutige Zunge heraus und hält plötzlich einen Milchzahn in der Hand. Bewegung gerät in die Mädchenreihe. Im Kurs Wunder der Natur behält damit die Natur das letzte Wort – auch die Eltern könnten ihr wohl wieder mehr vertrauen.

*Alle Kindernamen wurden geändert.

Von Stefanie Maeck

15. Januar 2013, 16:57 Uhr

Erschienen in: Zeit Online. Zu finden unter: https://www.zeit.de/politik/2013-01/Bildungspanik-Kinder-Foerderung/komplettansicht

Frau Professor aus dem Arbeitermilieu?

Science-ORF.at

Frau Professor aus dem Arbeitermilieu?

Die Debatte über Diversität an Hochschulen hat einen blinden Fleck: nämlich die soziale Herkunft des akademischen Personals. Der Weg zur Professur wird für Arbeiterkinder immer schwieriger. Das gilt besonders für Frauen.

4. Jänner 2021, 8.16 Uhr

Die soziale Herkunft von Hochschul-Professorinnen und Professoren wird kaum thematisiert. Ist es doch die intellektuelle Leistung, die vermeintlich den Ausschlag gibt, ob jemand einen Lehrstuhl bekommt oder nicht. „Ich denke, dass in der Wissenschaft ein immer noch besonders ausgeprägter meritokratischer Glaube vorherrscht.“, sagt Christina Möller, Soziologieprofessorin an der Fachhochschule Dortmund. Dabei werde häufig vergessen, dass allein die Möglichkeit eine akademische Karriere einzugehen stark von der sozialen Herkunft abhängt.

Soziale Schließung an den Universitäten

Bildung wird in Österreich vererbt. Je höher das formale Bildungsniveau der Eltern, desto wahrscheinlicher studieren die Kinder. Laut der aktuellen Sozialerhebung haben die Studierenden zu vier Prozent der Eltern mit maximal Pflichtschulabschluss – aber zu 39 Prozent Eltern mit einem Studienabschlusss. Zur sozialen Herkunft des wissenschaftlichen Personals gibt es keine Daten – weder in Österreich noch in Deutschland.

Christina Möller hat eine repräsentative Befragung von Professorinnen und Professoren im deutschen Bundesland Nordrhein-Westfalen gemacht. „Mein Ergebnis war, dass nur rund jeder zehnte Professor bzw. Professorin ein sogenanntes Arbeiterkind ist oder aus ähnlich situierten Familien stammt.“ Dabei kommen Professorinnen (sieben Prozent) noch seltener aus einer Arbeiterfamilie als Professoren (elf Prozent). Für Frauen sei eine Professur besonders herausfordernd: Sie müssen sich nicht nur in der immer noch Männer dominierten Wissenschaft durchsetzen, sondern konkurrieren zudem mit Frauen aus privilegierten sozialen Schichten.

Wissenschaftskarrieren werden immer elitärer. Man könne eine soziale Schließung beobachten. So sind Akademikerkinder laut Möller in der Professorenschaft heute stark überrepräsentiert, wenn man sich im Vergleich dazu den Anteil an Akademikerinnen und Akademikern in der Gesamtgesellschaft ansieht. „61 Prozent der jüngsten Professorinnen und Professoren stammen aus akademischen Familien. Und wir haben im Moment erst 24 Prozent in der Erwerbsbevölkerung, die akademisch gebildet sind.“ Auch würden Wissenschaftskarrieren immer normierter werden. Professorinnen und Professoren weisen heute viel stärker als früher einen geraden Bildungsweg auf, am besten verknüpft mit Auslandsaufenthalten an renommierten Universitäten. „Von diesem Trend profitieren in der Regel Akademikerkinder, die bereits Kenntnisse über das akademische Feld sowie mehr ökonomische und soziale Ressourcen, etwa in Form von Netzwerken, mitbringen.“

Wissenschaftliche Aufstiegsbiographien

In seinem Buch „Rückkehr nach Reims“ erzählt der französische Soziologe Didier Eribon seine Lebensgeschichte. Aufgewachsen im Arbeitermilieu der nordfranzösischen Kleinstadt Reims, musste er viele Hürden überwinden, um im Pariser Intellektuellenmilieu Fuß zu fassen. Je erfolgreicher Eribon wurde, desto stärker entfernte er sich von seiner Herkunftsfamilie, bis er eines Tages zurückkehrte. Die Rückkehr war auch ein „Wiedersehen mit einem negierten Selbst“.

Das Buch wurde zum Bestseller und hat auch einen Reflexionsprozess in der Wissenschaft angestoßen. Gleich ein paar Bücher, die sich dem Thema Klassismus widmen, wurden letztes Jahr publiziert. In dem von Christina Möller mitherausgegeben Buch „Vom Arbeiterkind zur Professur“ schildern deutsche Professorinnen und Professoren aus Arbeiterfamilien ihre Aufstiegserfahrungen. Erfahrungsberichte von Aufsteigerinnen und Aufsteigern findet man auch in “Klassimus und Wissenschaft“. Die soziologische Reflexion über soziale Herkunft ist nicht neu. Bereits Anfang der 2000er Jahre unternahm der französische Soziologe Pierre Bourdieu, selbst „Klassenwechsler“ eine solche in seiner Anti-Autobiographie „Ein soziologischer Selbstversuch“.

Gefühle der Nichtzugehörigkeit und der Scham

Die Biographien derjenigen, die es aus einer Arbeiterfamilie in eine Professur geschafft haben, sind vielfältig. Und doch gibt es gewisse Gemeinsamkeiten, bestimmte Beschreibungen, auf die man immer wieder trifft: Gefühl der Scham etwa oder der Nichtzugehörigkeit. Wer sich im akademischen Milieu einlebt, die akademische Sprache und den akademischen Gestus annimmt, entfremdet sich gleichzeitig von der Herkunftsfamilie. Dieser Spagat fällt vielen schwer. Manche haben sogar das Gefühl ihren hart erarbeiteten Platz an der Hochschule ungerechtfertigter Weise inne zu haben.

„Es ist erstaunlich, wie lange es gedauert hat bei mir, bis mir die Klassenstrukturen an der Universität klar geworden sind.“, erzählt Ruth Sonderegger Professorin für Philosophie und ästhetische Theorie an der Akademie der bildenden Künste in Wien. Aufgewachsen im katholisch geprägten Kleinbürgertum habe sie sich sehr lange mit der Institution Universität vollständig identifiziert und habe versucht, alle Anforderungen der akademischen Welt zu erfüllen. Dass sie heute Klassenstrukturen sieht, analysiert und kritisiert, habe sie unter anderem der Lektüre von bell hooks Buch „Where we stand: Class Matters“ zu verdanken. Darin verknüpft die afro-amerikanische Literaturwissenschafterin, die selbst einen Milieuwechsel vollzogen hat, die Themen Rassismus, Feminismus und Klassismus und berichtet auch vom selbst erlebten akademischen Klassismus.

Diese Entfremdung von der Herkunft, die Scham und die Tatsache, dass das ganze Leben als Prüfungssituation wahrgenommen wird: In diesen Erfahrungen erkannte Ruth Sonderegger sich selbst wieder. Heute lehrt und forscht sie an einer Kunstuniversität und damit an einem Ort, an dem soziale Herkunft besonders zählt. 54 Prozent der Studierenden von Kunststudien kommen in Österreich aus einem Akademikerhaushalt, höher ist der Anteil mit 58 Prozent nur in der Medizin. Doch heute thematisiert Ruth Sonderegger ihre Herkunft und auch die Absolventinnen und Absolventen der Akademie prangern den vorherrschenden Klassismus an, wie in der letzten AbsolventInnenbefragung sichtbar wurde. Man müsse weiterhin von Klassen reden, ist die Philosophieprofessorin überzeugt. Das Reden über Diversität helfe nicht dabei Ungleichheit zu reduzieren, es verschleiere vielmehr die Machtverhältnisse, die mit Klassenstrukturen einhergehen. Zentral sei die Frage: Warum gibt es Klassen, wer will sie und warum werden sie von wem mitgetragen?

Juliane Nagiller, Ö1-Wissenschaft

https://science.orf.at/stories/3203646/?utm_source=pocket-newtab-global-de-DE

Ein Frei-Day for future pro Woche

Interview mit Margret Rasfeld vom Jänner 2020, freundlicherweise zur Verfügung gestellt von der Straßenzeitung marie für die Initiative GEMEINSAM.ZUKUNFT.LERNEN / Verein für neue Wirklichkeiten

marie: Sie haben zwei Schulen gegründet, sie erfolgreich geführt, Auszeichnungen dafür bekommen. Was zeichnet diese Schulen denn aus?

Margret Rasfeld: Diese – und etliche weitere – zeichnet eine andere Haltung aus: Wir trauen den Kindern sehr viel zu und bieten ihnen möglichst viele Gelegenheiten, sich auszuprobieren. Lehrer verstehen wir als Unterstützer des Lernprozesses und nicht als Wissensvermittler. Schulen wie diese haben das Lernen an echten Herausforderungen und Realaufgaben strukturell verankert. Denn Verantwortung zu übernehmen, mit Ungewissheiten umzugehen oder selbstbestimmt auf Situationen zu reagieren lernt man nicht am Tisch mit Arbeitsblättern. Dazu muss man sich rausbegeben ins wahre Leben. Und so haben wir einige ungewöhnliche Fächer wie „Verantwortung“ oder „Herausforderung“ kreiert.

Welche Fächer fehlen noch an unseren Schulen?

Wir müssen weg von den Fächern. Wir zersplittern den Schulalltag in Fächer, die nichts miteinander zu tun haben. Es wäre wichtig, über Projekte zu lernen, Themen aus unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten. Und selber aktiv zu werden, eigene Fragen stellen zu dürfen, anstatt nach Antworten zu suchen, die als Lösung längst im Lehrerhandbuch stehen …

… und nur ein Richtig oder Falsch zulassen.

Genau. Und wir wundern uns dann, wenn Kinder ihre Kreativität verlieren! Wer zehn Jahre lang fremde Fragen beantwortet, verlernt eigene Fragen zu stellen. Am besten wäre es, man würde nur noch in Projekten arbeiten. Aktuell versuchen wir in Deutschland mit dem „FREI-DAY for future“ zumindest einen Tag pro Woche für projektbasiertes Lernen strukturell zu verankern: also mindestens vier Stunden pro Woche dem Lernbereich Zukunft und damit Themen wie Nachhaltigkeit, Klima, Frieden zur Verfügung zu stellen. Wissen, Handeln, Netzwerke aufbauen, um diese drei Aspekte geht es. Alleine kann keiner diesen Wandel schaffen. Wir brauchen Bündnisse und wir haben Menschen mit sehr viel Expertise, die allerdings durch die herkömmliche Stundenplan-Taktung nicht in die Schulen reinkommen. Ein FREI-DAY könnte das ändern, könnte Schulen für Netzwerke öffnen.

Worunter leiden Schüler*innen aktuell denn am meisten?

Unter Langeweile. Darunter, dass sie Dinge lernen müssen, die wenig Sinn machen und sie nicht für die großen Themen befähigen. Im Grunde sind sie überfordert von fremdbestimmten Inhalten und unterfordert in ihrem Humanpotenzial. Es fehlt an Sinn und Beteiligung. Stattdessen werden Kinder und Jugendliche zu Leistungsablieferanten, gefangen im Hamsterrad, fühlen sich zunehmend krank und schlecht, weil sie glauben, nicht zu genügen oder zu enttäuschen. Das ist gefährlich und entspricht weder den Kinderrechten noch der Würde des Menschen.

„Es fehlt an Sinn und Beteiligung. Stattdessen werden Kinder und Jugendliche zu Leistungsablieferanten, gefangen im Hamsterrad, fühlen sich zunehmend krank und schlecht, weil sie glauben, nicht zu genügen oder zu enttäuschen. Das ist gefährlich und entspricht weder den Kinderrechten noch der Würde des Menschen. “

Und die Lehrer?

Den Lehrern geht’s im Grunde genauso: sie müssen die Lehrpläne erfüllen, sie sitzen vielleicht bis Mitternacht, um sich nette Sachen auszudenken, wie sie die Schüler motivieren könnten und sind dann enttäuscht, wenn sie diese nicht erreichen. Wenn man von einer Klasse in die andere rennen muss, wird auch Beziehung verhindert. Nur wo die Strukturen verändert werden, verändert sich auch für alle das Wohlbefinden und der Sinn. Und gleichzeitig lernen die Schüler viel.

Was hat Sie eigentlich selbst zu der Pädagogin gemacht, zu der Sie geworden sind?

Ich bin aufgewachsen in der 68er- Zeit mit all dem Engagement für Ökologie und Frieden und gegen Atomkraftwerke. Das hat mich sehr geprägt und ich habe von Anfang an Projekte mit Schülern gemacht und dabei gesehen, wie sehr sie sich begeistern lassen. Immer mehr habe ich die Räume dafür geöffnet und verankert. Zurück zur Frage: Im Grunde also all die Erfahrungen, die du machst, wenn du loslässt.

Aus aktuellem Anlass: In Vorarlberg wurde eine Petition gestartet, die sich gegen den wieder eingeführten Notenzwang richtet und für die freie Wahl der Leistungsbeurteilung ausspricht. Was sagen Sie dazu?

Die Noten müssen dringend abgeschafft werden, dürfen nicht mal mehr zur freien Wahl stehen. Wir befinden uns aktuell in der Transformation vom „Höher-Schneller- Weiter“ hin zur Kraft des Wir. In der Arbeitswelt hat man verstanden: Für kreative Lösungen brauchst du heterogene Teams. Durch die Leistungsgesellschaft und das Internet landen junge Menschen allerdings im Optimierungswahn. Noten unterstützen genau diese Ausrichtung und deshalb gehören sie dringendst zu Gunsten von individuellen Feedbacks abgeschafft. Future-Skills, also Metakompetenzen wie Teamarbeit, Empathie, Durchhaltevermögen, Frustrationstoleranz, Umgang mit Fremdem usw. sind ja alle nicht ablesbar von der Note. Noten fokussieren den Vergleich, die Konkurrenz und festigen diese antiquierten Haltungen.

Sind wir damit bei jenen Musterbrüchen, die Sie einfordern, damit sich etwas ändern kann?

Musterbrüche helfen uns, nicht mehr in altes Verhalten zurückzurollen. Ein solcher Musterbruch kann die Jahrgangsmischung sein, die keine Frontalbeschallung im Gleichschritt mehr zulässt. Oder die gewollte Heterogenität statt Selektion. Ja, auch Noten zu überwinden kann ein Musterbruch sein, weil dann etwas Gewohntes wegfällt und uns fordert, etwas Neues zu entwickeln. Wir entwerfen in Deutschland gerade eine Art „Alternativwährung“: ein digital gestütztes, übers Handy bedienbares Feedbacksystem. Hier können Schüler selber ihre Metakompetenzen eintragen und belegen, wie sie sie erworben haben. Da geht es also um Future Skills – nicht um Mathematik.

Apropos Skills: Welche Rolle sollten die digitalen Medien in der Schule spielen?

Sie sind erstmal ein schönes Werkzeug, wenn ich mich austauschen, einen Film drehen, mir Wissen aneignen will. Aber in der Grundschule brauchen wir sie gar nicht, da sollen die Schüler lieber auf den Acker gehen. Im Grunde geht es um digitale Mündigkeit und diese erfordert dieselben Metakompetenzen wie nachhaltige Entwicklung und die Fähigkeit, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Also sich zu organisieren, im Team zu arbeiten, neugierig zu sein und keine Fehlerangst zu haben. Programmieren kann man nur, wenn man immer wieder Fehler macht und daraus lernt! Und dann natürlich: mit Fake News umgehen, Infos bewerten können, das ist digitale Mündigkeit. Nicht einfach nur im Computer statt im Heft zu schreiben. Da steckt ja kein Systemwechsel dahinter.

Was ist aus Ihrer Sicht das Um und Auf gelingender Inklusion?

Die neue Lernkultur. Inklusion heißt ja nicht, „Ich beziehe jetzt Kinder mit Handicap mit ein.“, Inklusion heißt „Jeder ist anders und wir freuen uns, dass jeder anders ist.“, Und weil jeder anders ist, muss es eine große Vielfalt an Angebot und Lernformen geben. Die Schule heute ist Einengung pur, die kulturelle Bildung wird Nebenfach genannt, doch wenn wir auf die Wirtschaft blicken, sehen wir: Die größte Kreativität entsteht in der heterogensten Gruppe. Dieses Strukturprinzip macht sich auch die aktuell sehr gehypte Methode des Design Thinking zunutze.

Nochmals zurück zu „höher, schneller, weiter“ als nicht zukunftsfähiges Paradigma. Hängen da aber Politik und Wirtschaft nicht noch an alten Zöpfen?

Das würde ich so nicht sagen. Die Politik war vielleicht noch nie geeignet für Musterbrüche, die Zivilgesellschaft ist da gefragt. Das Denken in Konkurrenz, die Orientierung am Profit statt am Menschen hat zwar alle Bereiche erfasst, aber überall spürt man inzwischen auch die Bestrebungen, genau das zu überwinden. Unternehmen wissen „new work“ braucht „inner work“ und auch am Beispiel der Alternativen Medizin oder Öko-Landwirtschaft sehen wir: Da gibt es große Entwicklungen. Überall. Und die Bildungspolitik ist halt Parteipolitik, das hat ja nicht viel mit Bildung zu tun, aber dagegen müssen wir uns wehren.

Wer aber sind „wir“? Oder anders gefragt: Wer hat die Hebel in der Hand, um Schule zu reformieren?

Am besten ist immer: von unten gewollt und von oben unterstützt. Schulen, die etwas anders machen, müssen hinausgehen und sich zeigen, so, wie auch Schule im Aufbruch vernetzt, inspiriert und zu einer Art Mutmachbewegung geworden ist. Bei Schule im Aufbruch Österreich haben wir erlebt, dass auch Schulinspektoren Teil der Bewegung werden. Wer aufbricht, bekommt von uns jedenfalls Unterstützung.

Das Interview führte: Simone Fürnschuß-Hofer, Jänner 2020

„Im Mittelpunkt stehen die Kinder und nicht das System“

Regisseurin Doris Kittler porträtiert in ihrem Film „1+1=100“ eine Mehrstufenklasse – Die Schüler entscheiden selbst, wie sie sich Themen erarbeiten wollen

Interview

Rosa Winkler-Hermaden. Erschienen in der Tageszeitung „Der Standard“ am 8. Mai 2012

Doris Kittler zeigt 25 Schüler zwischen sechs und zehn Jahren verschiedener Herkunft und mit unterschiedlichsten Bedürfnissen, die gemeinsam unterrichtet und doch individuell betreut werden.

„Die Menschen sind vom Schulsystem frustriert“, sagt die Wiener Regisseurin Doris Kittler. Mit ihrem Film „1+1=100 oder Die Schule des Lebens“ will sie zeigen, dass es auch anders geht. Kittler porträtiert eine Wiener Schule, in der Kinder selbst entscheiden, in welcher Geschwindigkeit sie Lesen und Rechnen lernen. „Die Schüler können sich ihre Zeit selber und frei einteilen und die Art und Weise, wie sie sich Themen erarbeiten wollen. Es gibt schon Ziele, bis wann die Kinder was können müssen, aber sie entscheiden selbst über ihr Tempo.“

In Kittlers Augen ist eine Mehrstufenklasse die Idealform von Schule. Über mehrere Jahre hat sie die Kinder mit der Kamera begleitet. Sie erhofft sich, dass das Schulmodell flächendeckend eingeführt wird. „Die Politiker oder die Gesellschaft brauchen keine Angst davor haben, dass Menschen heranwachsen, die zu kritisch sind“, sagt sie im Interview mit derStandard.at.

derStandard.at: Sie haben eine Mehrstufenklasse mit der Kamera begleitet und daraus einen Dokumentarfilm gemacht. Wie war das, als Sie die Kinder mit der Kamera konfrontiert haben?

Kittler: Ich habe diese Klasse an einem Tag der offenen Tür kennengelernt. Das Bild, das sich mir dargeboten hat, war in meiner Wahrnehmung sehr untypisch für eine Schulklasse. Normalerweise sitzen sie an ihren Tischen und schreiben irgendetwas von der Tafel ab. In dem Fall war es aber so, dass die Kinder seelenruhig am Boden ihre Arbeit gemacht haben. Sie haben sich Materialien zu einem bestimmten Thema zusammengesucht und damit gearbeitet.

Im ersten Moment sieht es wie Spielen aus. Wenn man genauer hinsieht, merkt man aber, es ist ein selbstständiges Erarbeiten von Dingen. Ein Kind ist zum Beispiel in einem großen Korb voller Kastanien gesessen und hat gelesen. Das hat mich emotional sehr berührt, und ich habe mir gedacht: Warum konnte ich nicht in so eine Schule gehen? Als ich dann anfing zu filmen, war ich praktisch wie eine von ihnen. Nach einer Weile nahm keiner mehr von mir Notiz. Dadurch konnte ich den Kindern sehr nahe kommen und alles direkt und authentisch auf die Leinwand bringen.

derStandard.at: Was unterscheidet die Mehrstufenklasse von anderen Schulklassen?

Kittler: Kinder zwischen fünf und zehn Jahren arbeiten gemeinsam in einer Klasse. Verschiedenaltrige lernen voneinander oder auch ein hochbegabtes von einem sogenannten behinderten Kind. Kulturelle und soziale Abstammung, Alter, Geschlecht oder Begabungen werden zwar ernst genommen, stehen aber hinter dem Prinzip der Gleichwertigkeit aller Kinder.

In der Früh entscheiden alle für sich, was sie tun wollen. Wo will ich weiterkommen? Die Schüler können sich ihre Zeit selbst und frei einteilen und die Art und Weise, wie sie sich Themen erarbeiten wollen. Es gibt schon Ziele, bis wann die Kinder was können müssen, aber sie entscheiden selbst über ihr Tempo. 

Beim Lesenlernen gibt es naturgemäß unterschiedliche Geschwindigkeiten. Manche beherrschen es in der ersten Klasse, manche in der dritten. Jedes Kind hat seine eigene Geschwindigkeit. Es ist nicht wichtig, wann das Kind was lernt, sondern dass es etwas lernt. Im Vordergrund steht, dass es ohne jeden Notendruck besonderes Interesse am Lernen entwickelt. Die Motivation ist nicht etwa Angst vor der Lehrerin oder vor einer schlechten Note, sondern die eigene Lust am Lernen soll Motivation sein. Im Mittelpunkt stehen die Kinder und nicht das System oder die Lehrer. Diese Begeisterung, die die Kinder vermittelt bekommen, ist in meinen Augen ein Kernpunkt dieser Mehrstufenklasse.

derStandard.at: Was entgegnen Sie Kritikern, die meinen, es fehle in der Mehrstufenklasse an Struktur?

Kittler: Die Kritiker lade ich freudig ein, meinen Film im Kino anzusehen. Viele denken, das sei nur Kuschelpädagogik und die Kinder würden zu wenig lernen. Ich kann nur sagen: Die Kinder werden gut gefordert und lernen wahnsinnig viel. Sie schaffen die spätere Umstellung auf Regelschulen mit Noten und strengerem Stundenplan ohne Lernprobleme und sind hervorragende SchülerInnen. 

derStandard.at: Sie haben die Mehrstufenklasse an der Wiener Volksschule Brioschiweg im 22. Bezirk begleitet. Dabei handelt es sich nach wie vor um einen Schulversuch.

Kittler: Es ist eine Mehrstufen-Integrationsklasse, die als Schulversuch in einer ganz normalen öffentlichen Wiener Volksschule geführt wird. Er läuft seit ungefähr 13 Jahren, und es ist ganz wichtig zu betonen, dass es davon mehr als hundert in ganz Wien gibt. Das heißt, das Modell ist eigentlich schon etabliert, aber es ist immer noch ein Schulversuch, für den jedes Jahr wieder neu angesucht werden muss. Es stellt sich für die Schule also immer die Frage: Dürfen wir das weiterführen? Eine Mehrstufenklasse ist schon personalaufwendiger und etwas teurer. Aber ich bin sicher, dass die Politik bald auf die riesige Nachfrage, die es vonseiten vieler Eltern gibt, reagieren wird.

derStandard.at: In Ihrem Film scheint es, als gebe es in der Klasse keine Probleme. Funktioniert das wirklich alles immer so reibungslos?

Kittler: Ich bin weder Lehrerin noch Bildungsexpertin, ich bin die Regisseurin, die den Film gemacht hat. Die Lehrerinnen sagen, es hat in den 13 Jahren nur ein Kind gegeben, es war ein Kind mit besonderen Bedürfnissen, das nicht in diese Klasse gepasst hat. Das Kind war autistisch und hatte Angst vor so vielen Kindern. Es ist dann in eine Sonderschule gekommen.

Ich habe die Klasse sehr harmonisch erlebt. Und wenn es Reibungen gibt – die gibt es überall, in jeder Gruppe -, dann wird das besprochen. Jede Woche gibt es einen Klassenrat. Jedes Kind kann schreiben und vortragen, was ihm nicht gepasst hat, was es toll findet. Es geht in Richtung partizipiale Demokratie. Die Kinder fühlen sich damit wohl.

derStandard.at: Die Lehrerinnen kommen sehr engagiert rüber. Was zeichnet sie aus?

Kittler: Diese Schulform lebt von den Lehrerinnen. Sie verstehen, was sie tun, und sind irrsinnig sensible Menschen, die von Herzen engagiert sind. Sie sind fasziniert von ihrem Beruf und leben ihn hundertprozentig. Es ist gar nicht gesagt, dass es speziell Montessori-ausgebildete Lehrerinnen sind. Die eine ist Kunsthistorikerin und hat eine Ausbildung zur Sonderpädagogin gemacht. Sie hat sich ihre eigene Methode aus vielen pädagogischen Formen mit der Zeit erarbeitet.

derStandard.at: Würden Sie empfehlen, diese Schulform flächendeckend einzuführen?

Kittler: Selbstverständlich bin ich dafür. Ich glaube, dass diese 13 Jahre Schulversuch gezeigt haben, dass er funktioniert. Schaut euch den Film an und entscheidet selber. Glaubt ihr, dass diese Form funktioniert? Meine Antwort kann nur Ja sein. Warum? Ich denke, dass die Gesellschaft sehr viel davon hätte, dass Menschen heranwachsen, die selbstbewusst sind und lernen, selbstbestimmt zu handeln.

Die Politiker oder die Gesellschaft brauchen keine Angst davor haben, dass Menschen heranwachsen, die zu kritisch sind oder die vielleicht das System umstürzen. Ich glaube, dass diese Menschen unsere kranke Welt wesentlich zum Positiven verändern könnten. Es wächst eine neue Generation heran, die es in den letzten 200 Jahren nicht gegeben hat – solange dieses Bildungssystem so ausgesehen hat. Natürlich hat sich schon viel verändert, die Schulen sind nicht mehr so wie im Jahr 1850. Aber es finden sich immer noch Grundzüge aus diesem vom Militär geprägten System Schule.

derStandard.at: Welche neuen Aufgaben muss die Schule übernehmen? Welche Eigenschaften brauchen junge Menschen heute?

Kittler: Wie auch die Lehrerin im Film sagt, die Wirtschaft fordert heute Menschen, die selbst denken, kreativ und selbstbestimmt arbeiten können. Die Unternehmer beklagen sich ja über 15-Jährige, die vielleicht Mathematik beherrschen, aber sie können sie nicht brauchen, weil sie zu wenig selbstständig sind. Auf die Jungen kommen riesige Aufgaben zu, die nur mit einem radikalen gesellschaftlichen, ökologischen und politischen Wandel einhergehen können. Dafür braucht es Hirn und Herz. Herzensbildung sollte der Hauptgegenstand in allen Schulen sein.

derStandard.at: Ihr Film stößt auf viel Resonanz, die Spieldauer wurde jetzt sogar verlängert. Wie erklären Sie sich den Erfolg?

Kittler: An sich ist das eine sehr kleine Low-Low-Budget-Produktion, die jetzt ungewöhnlich starke, auch mediale Resonanz erfahren hat. Das Kino ist schon die dritte Woche so stark besucht, dass „1+1=100“ vermutlich bald österreichweit gezeigt wird. Ich denke, dass es nicht nur darum geht, dass die Menschen vom Schulsystem frustriert sind. Sie spüren, dass uns das Wasser bis zum Halse steht, sehnen sich nach echten Alternativen und verstehen, dass Bildung dabei eine Schlüsselfunktion einnehmen muss. Hier bekommen die Leute ein lebendiges Bild von einem positiven Beispiel, wie Schule funktionieren kann. Und das macht sie einfach glücklich. In den Kinovorstellungen wird viel gelacht, und danach gibt es intensive und emotionale Diskussionen. Humor scheint tatsächlich eine gute Waffe zu sein. (Rosa Winkler-Hermaden, derStandard.at, 7.5.2012)

Doris Kittler, geboren 1969 in Wien, studierte Bühnen- und Kostümgestaltung an der Universität Mozarteum in Salzburg. Von 2000 bis 2002 arbeitete Kittler als Lektorin in Sibirien. Dort entstanden ihre ersten Dokumentarfilme. 2009 und 2010 hat sie die Proteste gegen die Errichtung des Konzertsaals der Wiener Sängerknaben am Wiener Augartenspitz filmisch dokumentiert.

„Schule 2030“

Alles verändert sich, nur das Modell Schule bleibt gleich. Laut dem Experten Olaf-Axel Burow müssen Lernkonzepte neu gedacht werden.

Von Elisa Mair. Erschienen am 23.02.2020 in der „Tiroler Tageszeitung“

Innsbruck – Auf dem Kongress „Schule 2030“ haben sich am Mittwoch und Donnerstag rund 200 Lehrkräfte in Innsbruck mit dem Thema gute, gesunde und nachhaltige Schule beschäftigt. In Ideenwerkstätten wurden Inspirationen für die Schule der Zukunft gesammelt. Im Rahmen eines Vortrags skizzierte der Lehrer und Erfolgsautor Olaf-Axel Burow sieben Trends, die die Zukunft der Schule maßgeblich verändern werden.

Warum ist das Modell Schule, so wie wir es kennen, Ihrer Ansicht nach hinfällig?

Olaf-Axel Burow: Die Lebensumwelt, in der wir leben, hat sich verändert – Stichwort Digitalisierung und Künstliche Intelligenz. Nur das schulische Modell ist gleich geblieben und gleicht einer Fabrik. Schüler werden je nach Alter in Klassen gesteckt und hinten raus je nach Können und Abschluss aussortiert. Der Leistungsunterschied innerhalb einer Klasse ist oft zu groß.

Wie sieht der Unterricht von morgen aus?

O.-A. Burow: Es geht weniger um die Wissens­aneignung oder das Auswendig-Lernen. In Zeiten der Digitalisierung muss den Schülern vermittelt werden, was die Quellen seriösen Wissens sind und wie mit Quellen wie Wikipedia umgegangen werden kann. Die Schüler müssen lernen, kritisch zu denken und problemlösend zu handeln. Natürlich ist Wissen immer noch wichtig, ein Teil der Wissensvermittlung sollte aber ausgelagert werden.

Sie nennen die Demokratisierung als einen Trend, der die Schule revolutionieren wird. Wie kann Demokratie in den Schulen vermittelt werden?

O.-A. Burow: Demokratisierung hat nichts damit zu tun, 45 Minuten die Schulbank zu drücken und fünf Minuten Zeit zu haben, um aufs Klo zu gehen. Es braucht Projekte, wo sich Schüler aktiv beteiligen. Ein Beispiel ist die Fridays-for-Future-Bewegung, wo Schüler freitags die Schule verlassen, um über ihre Zukunft zu diskutieren. Es zeigt, dass sie diese gestalten wollen und vor allem auch können.

Wie müssen sich die Räumlichkeiten an die Schule von morgen anpassen?

O.-A. Burow: Offene Klassen wie beispielsweise ein Gymnasium in Kopenhagen können eine Möglichkeit sein. Die einzigen Türen, die es in dem Gebäude gibt, sind jene zu den zwölf Toiletten. In manchen Schulen funktionieren solche Lernateliers wunderbar. Wir müssen den Schülern mehr Raum geben, eine „Maker-Space“, um eigene Ideen zu entwickeln und umzusetzen. Wichtig ist, dass sich der Raum an das Lernkonzept der Schule anpasst.

Hat das alte Klassenzimmer demnach ausgedient?

O.-A. Burow: Das Klassenzimmer, wie wir es kennen, wird den neuen Anforderungen nicht gerecht. Dabei darf man nicht vergessen, dass Lehrer nur das umsetzen können, wofür sie selbst bereit sind. Ein Lehrer, der nicht gern Neues über sich selbst herausfindet und Ungewissheit meidet, ist in einer offenen Lernlandschaft verloren.

Rund ein Drittel der Lehrer erkrankt am Burnout-Syndrom. Wie können zukünftige Schulmodelle darauf reagieren?

O.-A. Burow: Laut Studien sehen sich Lehrer sowie Schüler mit einer hohen Belastung konfrontiert. Deshalb muss die Schule der Zukunft eine gesunde Schule sein. Ich sehe großes Potenzial im selbstgesteuerten Arbeiten. Lassen wir Schüler in Teams in ihrem Tempo Sachverhalte selbst erarbeiten: Die einen langweilen sich weniger schnell und für die, die persönliche Unterstützung brauchen, bleibt mehr Zeit. Der Lehrer ist somit nicht mehr der Entertainer, der vorne steht, sondern einer, der im Hintergrund agiert und Lernprozesse sowie -umgebung gestaltet und analysiert. Er wird also zu einem Schulentwickler.

Was ist die größte Herausforderung für die Schule 2030?

O.-A. Burow: Es ist ein großer Irrtum, zu glauben, Kinder wären „digital nativs“, sie sind vielmehr „digital naivs“. Sie können ihr Handy zwar bedienen, aber sich kompetent Wissen aneignen, das können viele nicht. Das Problem ist, dass viele Lehrer darin nicht geschult sind. Die Fortbildung der Lehrer, vor allem auch der Schulleitung, ist aber notwendig, um eine zukunftsorientierte Denkweise zu entwickeln und um auf die Trends der Zukunft reagieren zu können.

Beziehung statt Erziehung

Letzte Lektion Liebesentzug – wer in Sachen Erziehung ausschließlich auf emotionales Einverständnis setzt, begibt sich auf gefährliches Terrain

«Beziehung statt Erziehung» lautet ein trendiges pädagogisches Konzept. Jede Form von Strenge erscheint wie Manipulation. Dabei wird gerne übersehen, dass auch in autoritätslos scheinenden Beziehungen verdeckte Zwänge wirken. Und nicht zu knapp.

Von Margrit Stamm, erschienen in der Tageszeitung „Neue Zürcher Zeitung“ am 01.12.2020

Die Kosten des Liebesentzugs sind hoch, weil er das Selbstwertgefühl des Kindes beschädigt und ihm durch Manipulation sein Ungenügen vor Augen führt.

Autorität gilt als «böses» Wort, Erziehung als Manipulation, zumindest in neuen Bewegungen, welche Nichterziehung oder die alleinige Orientierung an den kindlichen Bedürfnissen proklamieren. Eigentlich verständlich. Autorität ist ein schwieriger Begriff, und wir alle haben Erfahrungen mit ihr. Wer selbst autoritär erzogen worden ist, will alles dafür tun, um nicht ein Abbild der strengen Eltern oder des angsteinflößenden Paukers zu werden. Autorität wird deshalb mit Drill, Angst und konservativem Denken gleichgesetzt und im Widerspruch zu Freiheit und Selbstbestimmung gesehen. Trends wie #beziehungstatterziehung gelten als neue Alternativen.

Erziehungsstile sind zu Lebenshaltungen geworden und werden oft wie politische Ideologien verfolgt. Dies ist ein Grund für den moralisch aufgeladenen Diskurs, der die Krise der Autorität überdeutlich macht. Dabei werden die Konzepte der bedürfnisorientierten Nichterziehung oft niederkomplex dargestellt, weil sie unbeabsichtigte Auswirkungen auf die Kinder ausblenden. Auch eine Beziehung, die ohne Erziehung und Autorität funktionieren will, kann verdeckte Zwänge beinhalten.

Verhandlungshaushalt statt Befehlshaushalt

Autoritätsstrukturen haben sich gewandelt. Familie und Schule sind kaum mehr herrschaftsförmig organisierte, sondern kindzentrierte Formen von Zusammenleben und Ausbildung. In der Familie hat der Verhandlungshaushalt den Befehlshaushalt abgelöst, in der Schule geht es verstärkt um Selbstorganisation und Demokratielernen. Dies ist eine vielversprechende Entwicklung, die aber auf ein stützendes Gerüst der Erziehung angewiesen ist. Kleine Kinder und junge Schüler brauchen einen strukturierenden Umgang mit Erwachsenen, der sie davon entlastet, selbst bestimmen zu müssen, was für sie gut ist. Starke Eltern fordern deshalb die Einhaltung von Regeln, akzeptieren die Kinder als ernst zu nehmende Gesprächspartner und geben ihnen viel Liebe und Unterstützung.

Liebesentzug ist die wirksamste und schärfste, aber oft unbewusste Form von Strafe mit großem Gefahrenpotenzial.

Ein solcher autoritativer Erziehungsstil gilt als besonders entwicklungsförderlich. Autoritativ meint weder autoritär noch «anything goes», sondern die Schaffung des Fundaments für eine gesunde psychische und physische Entwicklung. Ein autoritativer Erziehungsstil verzichtet auf Zwang, gewährt aber viel Freiheit, um Kinder zu Eigenständigkeit und Mündigkeit zu führen. Dahinter steckt die Überzeugung, dass in jeder erzieherischen Situation aufs Neue pädagogische Autorität entsteht. Anderes gilt für Konzepte der bedürfnisorientierten Nichterziehung oft niederkomplex dargestellt, weil sie unbeabsichtigte Auswirkungen auf die Kinder ausblenden. Auch eine Beziehung, die ohne Erziehung und Autorität funktionieren will, kann verdeckte Zwänge beinhalten.

Anderes gilt für Konzepte der bedürfnisorientierten Nichterziehung, welche auf die gleichberechtigte Behandlung der Kinder setzen. Sie sollen sich ohne Zwang entwickeln und Verantwortung für sich selbst und die eigenen Entscheidungen übernehmen, und zwar unabhängig vom Alter. Mit ihrer Kreativität, ihrem Selbstbewusstsein und ihrer intrinsischen Motivation gelten sie als diejenigen, welche unsere Welt in Zukunft braucht. Dies sind eindrückliche Ziele, denen kaum zu widersprechen ist. Doch sie berücksichtigen zu wenig, dass gerade in solchen Beziehungen oft auf verdeckte Zwänge zurückgegriffen wird, die mit Manipulation einhergehen können. Drei Beispiele: der Liebesentzug, die Verstrickung von Schulnoten und Elternliebe sowie die mit Dauerüberwachung einhergehende Eltern-Kind-Beziehung.

Mechanismen des Liebesentzugs

Der Liebesentzug ist eine verdeckte Erziehungsstrategie. Weil autoritätsfreie Lebenshaltungen als modern gelten, versuchen Eltern, sich egalitär zu verhalten. Doch geschieht dies oft unter Zuhilfenahme von widersprüchlichen Mechanismen des Liebesentzugs. Er gehört zu den psychologischen Kontrollstrafen und wird aufgrund seines manipulativen Charakters massiv unterschätzt.

Liebesentzug zeigt sich in Strategien wie Desinteresse am Kind signalisieren, abwertende Bemerkungen machen, ihm Verantwortung zuweisen, weil man so viel für es tut, oder seine Präsenz ignorieren. Dazu kommen neuere Formen von Liebesentzug, etwa, wenn Kinder jeden Abend vom Babysitter zu Bett gebracht werden, weil die Eltern so viel arbeiten, oder wenn kranke Kinder allein zu Hause bleiben müssen. Die Kosten des Liebesentzugs sind hoch, weil er das Selbstwertgefühl des Kindes beschädigt und ihm durch Manipulation sein Ungenügen vor Augen führt, psychisch, intellektuell und sozial. Liebesentzug ist die wirksamste und schärfste, aber oft unbewusste Form von Strafe mit großem Gefahrenpotenzial.

Das zweite Beispiel ist die Verknüpfung von Schulleistung und Elternliebe. Dominiert Beziehung statt Erziehung, ist das Kind oft der kleine König, dessen Eltern alles für es tun, sich mit seinen Noten identifizieren und bei Misserfolgen der Schule die Schuld zuschieben. Doch im Grunde genommen sind die Eltern vom Kind enttäuscht, weil seine Leistungen nicht ihren Erwartungen entsprechen.

Kinder lernen sehr schnell, welches die Agenda der Eltern ist. Finden sie heraus, dass gute Leistungen für Mama und Papa so wichtig sind, legen sie sich wie Seismografen die Überzeugung zurecht, dass sie ihre Liebe und Anerkennung nur gewinnen können, wenn die Noten stimmen. Dieser verdeckte Zwang scheint zwar autoritätslos und empathisch, doch spätestens, wenn es ums Gymnasium geht, schlägt die Bedürfnisorientierung in einen direktiven Erziehungsstil um. Kinder geraten dadurch in einen Teufelskreis unglaublichen Ausmaßes.

Im dritten Beispiel geht es um die permanente Kontrolle der Kinder, welche Ausdruck unserer Angst- und Risikogesellschaft geworden ist und auf manche Familie übergegriffen hat. Vordergründig scheint die Strategie, auf Beziehung statt auf Erziehung zu setzen, bestens zu Kontrolle und Überwachung zu passen. Denn wer die Grenzen zum Kind verwischt, dauernd mit ihm im Austausch sein will und es auch im Schulalter noch permanent unter Kontrolle hat, vermittelt ihm, dass dies nur zu seinem «Schutz» geschieht. Es handelt sich jedoch eher um eine verdeckte Manipulation, weil so die Kontrolle über das Kind aufrechterhalten werden kann, ohne dass man Autorität ausüben muss. Die Entschlossenheit, ganz dicht und immerzu am Kind dran zu sein, führt zu einer neuen Form von Einmischung, Überwachung und Normierung.

Richtige Balance

Solche Verhaltensweisen sind rechtlich umstritten. Netzwerke für Kinderrechte, Kinderanwaltschaften oder Datenschutzbeauftragte verweisen auf das Recht der Kinder auf Privatsphäre, das in der Uno-Kinderrechtskonvention festgehalten ist. Dieses Recht schützt Kinder vor Eingriffen in ihr Privatleben, aber auch vor solchen der Eltern. Deshalb dürfen Väter und Mütter nicht ohne Erlaubnis persönliche Sachen der Kinder durchsuchen, Telefongespräche abhören oder Briefe lesen. Ein allgemeines Beziehungs- und Sicherheitsbedürfnis der Eltern reicht nicht aus, um ein Kind permanent zu kontrollieren.

Autorität ist zwar eine ungeliebte Haltung, doch lässt sie sich kaum mit Strategien der bedürfnisorientierten Nichterziehung umgehen. Auch gutgemeinte humanistische Praktiken können autoritätslos scheinende Zwänge und Manipulationen beinhalten. Zwar kommen sie verdeckt zum Zug, doch beeinträchtigen sie die Psyche der Kinder und machen sie von den Eltern abhängig. Das Paradoxe daran ist, dass dies auch für Eltern gilt, weil sie sich zu sehr mit ihren Kindern identifizieren und sie nicht loslassen können.

Genauso wie der Mensch nicht als roher Klotz auf die Welt kommt, der mit Autorität und Disziplin geschliffen werden kann, machen Trends wie #beziehungstatterziehung aus Kindern noch lange keine mündigen Menschen. Wo immer dauerhafte Beziehungen eingegangen werden, entstehen soziale Ordnungsstrukturen, ob man will oder nicht. Das gilt für Schule und Familie, für Sport, Musik und das Vereinsleben. In solchen Settings agieren nicht Gleiche in partnerschaftlichen, sondern in asymmetrischen Beziehungen, zumindest gilt das für das Kindesalter. Dazu gehört auch die Unvermeidlichkeit eines partiellen Rückgriffs auf zustimmungsunbedürftige erzieherische Maßnahmen. Diese schlichte Einsicht nicht zu beachten und deshalb pädagogische Autorität zu negieren, ist ein großer Irrtum.

Autorität und Freiheit sind keine Gegensätze, doch sie müssen in der richtigen Balance sein. Hannah Arendt hat es so formuliert: «Autorität schließt den Gebrauch jeglichen Zwangs aus, und wo Gewalt gebraucht wird, um Gehorsam zu erzwingen, hat Autorität immer schon versagt.» Anstatt Autorität zu leugnen, ist es an der Zeit, sie in ein neues Erziehungsverständnis einzubetten, das dem gesellschaftlichen Wandel Rechnung trägt und Kinder auf ihrem Weg zur Lebenstüchtigkeit stärkt.

Margrit Stamm ist emeritierte Professorin für Erziehungswissenschaften an der Universität Freiburg i. Ü. Zuletzt ist 2020 erschienen: «Erziehung – Väter – Mütter» (Piper-Verlag).

In Memoriam: Remo Largo

„Der Leistungsdruck ist viel zu hoch“

Veröffentlicht am 28.02.2009 in der Zeitschrift WELT ONLINE |

Von Insa Gall

Der Schweizer Kinderarzt Remo Largo gehört zu den bekanntesten Autoren von Erziehungsratgebern. In seinem jüngsten Buch richtet er einen neuen Blick auf gute Schule. „Schülerjahre. Wie Kinder besser lernen“ ist ein Plädoyer für eine Schule, die vor allem auf die Bindung zwischen Schüler und Lehrer setzt.

WELT ONLINE: Herr Largo, wie muss gute Schule aus Sicht eines Entwicklungsspezialisten aussehen?

Remo Largo: Wir haben versucht, gute Schule vom Kind her zu denken. Sich geborgen zu fühlen und angenommen zu sein, sind Grundvoraussetzungen für erfolgreiches Lernen. Niemand zweifelt daran, dass die Bindung der Kinder an die Eltern entscheidend für ihre Entwicklung ist. Doch wenn die Kinder in die Schule kommen, geht man davon aus, dass sie dort emotional autonom funktionieren. Das ist sicherlich nicht der Fall. Die Kinder haben eine Bereitschaft, sich an die Lehrer zu binden und somit emotional abhängig zu werden. Wenn sie sich wohl fühlen, lernen sie besser. Das ist nicht „Nice To Have“, sondern eine echte Notwendigkeit. ?Die Leistungen der Kinder hängen stark von den Bindungen ab, die sie eingehen. Das betrifft die Beziehung vom Kind zum Lehrer, aber auch die vom Lehrer zu den Eltern, der Kinder untereinander und letztlich auch vom Lehrer zu seinen Kollegen.

WELT ONLINE: Wird das in unseren Schulen berücksichtigt?

Largo: Kaum. Beziehungen aufzubauen, hat leider keine Priorität und gilt als zu aufwendig. Emotionen sind in der Schule oft regelrecht tabu. Das ist nicht kindgerecht. Wenn wir nachschauen, warum manche Klassen völlig aus dem Ruder laufen, ist ein wesentlicher Grund intensiver Lehrerwechsel. Weil die Kinder irgendwann nicht mehr bereit sind, sich zu binden, sind sie auch nicht mehr führbar. Das Kind muss erleben, dass es vom Lehrer gemocht und akzeptiert wird, selbst wenn es keine guten Leistungen erbringt. Zudem ist doch unglaublich: Die Eltern geben ihre Kinder 1000 Stunden im Jahr in die Schule und kennen die Personen kaum, die es betreuen. An informellen Elternabenden kann keine persönliche Beziehung zu den Eltern entstehen. Dazu braucht es mehr, beispielsweise Hausbesuche.

WELT ONLINE: Sie betonen die Bedeutung von Geborgenheit, Zuwendung und feste Bindungen für die Schulentwicklung eines Kindes. Das klingt nach Wohlfühlpädagogik.

Largo: Natürlich verwechseln Kritiker dies oft mit Kuschelpädagogik. Sie wollen nicht kuschelnde, sondern kuschende Kinder. Es ist eigentlich offensichtlich, dass eine gute Pädagogik vertrauensvolle Beziehungen voraussetzt. Viele Lehrer sind oft nur dann in der Schule, wenn sie unterrichten. Für den Aufbau der Beziehungen wäre es besser, wenn sie ihre ganze Arbeitszeit in der Schule zubrächten.

WELT ONLINE: Die Pisa-Studie hat den Leistungsgedanken stärker in der Schuldiskussion verankert. Ist das verkehrt?

Largo: Das Verdienst der Pisa-Studie ist es, deutlich gemacht zu haben, welch großen Unterschied es macht, ob ein Kind in einer bildungsnahen oder -fernen Familie aufwächst. Viel mehr kann ich daraus nicht ablesen. Aber generell ist festzustellen, dass der Leistungsdruck auf die Kinder vielfach zu hoch ist. Die meisten Familien haben gerade noch ein oder zwei Kinder, und die müssen dann zum Erfolg werden. Wichtig wäre eine Debatte darüber, was ist Leistung oder Schulerfolg und was ist echtes Lernen? Denn diese haben oft wenig bis gar nichts miteinander zu tun. Es ist ein Missverständnis zu glauben, wenn ein Kind in der Schule erfolgreich ist, hat es auch etwas gelernt. Denn es wird zu viel auswendig gelernt, abgeprüft und dann gleich wieder vergessen. Erinnern wir uns an den Mathematik-Unterricht: Was ist uns geblieben, was brauchen wir heute noch? Meist sind es leider keine kind- und entwicklungsgerechten Argumente, die das Curriculum bestimmen. Echte Bildung orientiert sich an der kindlichen Entwicklung und wird nicht ausschließlich von den Erwachsenen bestimmt.

WELT ONLINE: Was muss ein guter Lehrer für seinen Beruf mitbringen?

Largo: Der Lehrer begreift sich als Spezialist für das Kind als ein lernendes Wesen. Meist wird er heute über sein Fach definiert, und das ist falsch. Ein guter Lehrer ist für mich einer, der sich für das Kind, und nicht nur für das Fach interessiert, für den schwache Kinder eine Herausforderung und nicht eine Belastung bedeuten.

WELT ONLINE: Wie groß ist der Anteil der Lehrer, die für ihren Beruf geeignet sind?

Largo: Die Auslese für den Lehrerberuf läuft leider häufig falsch. Ich würde empfehlen, dass all diejenigen, die Lehrer werden wollen, erst einmal ein halbes Jahr mit Kindern verbringen. Dann merken sie von selbst, ob sie geeignet sind, oder ihre Ausbilder weisen sie darauf hin. Sie müssen als Lehrer fähig sein, auf die Vielfalt der Schüler und ihrer Lernstände einzugehen, indem sie den Unterricht individualisieren.

WELT ONLINE: In Hamburg wird das Schulsystem 2010 komplett umgestellt. Was halten Sie von der Reform?

Largo: Wenn man nur auf die Struktur schaut, blickt man zu kurz. Bedeutsam ist nicht nur die Struktur, sondern vor allem das pädagogische Konzept. Man kann die Kinder noch so lange immer wieder anders einteilen, letztlich ist entscheidend, was pädagogisch umgesetzt wird. Wie weit wird beispielsweise der Unterricht individualisiert? Ohne Individualisierung wird längeres gemeinsames Lernen nicht funktionieren. Tut man es, garantiert dies noch nicht den Erfolg, aber es ist eine notwendige Voraussetzung.

WELT ONLINE: Können Lehrer innerhalb eines Jahres mit einer Fortbildungsoffensive so fit gemacht werden, dass sie auch sehr gemischte Lerngruppen bestmöglich fördern können?

Largo: Die Offensive ist auf jeden Fall begrüßenswert. Wenn sie das in so kurzer Zeit schaffen, dann haben sie meine echte Bewunderung. Mein dringender Rat wäre, nicht aufzugeben, wenn das Ziel in 2010 noch nicht erreicht ist, sondern weiterzumachen.

WELT ONLINE: Auch die Noten sollen bis zur sechsten Klasse abgeschafft werden, stattdessen gibt es Kompetenzraster.

Largo: Wenn man konsequent individualisiert, machen Noten keinen Sinn mehr. Sie sollten durch Kompetenzraster ersetzt werden. Diese werden als sehr aufwendig eingeschätzt, kosten aber im Schulalltag weniger Zeit als befürchtet.

WELT ONLINE: Viele Eltern sagen, dass ihre Kinder durch Noten eher motiviert werden.

Largo: Das ist eine Frage der Lebenshaltung. Wenn Sie davon ausgehen, dass Kinder nur etwas leisten, wenn sie einen Anreiz haben, beispielsweise durch Noten, dann kann man das schon machen. Ich denke, weite Teile der Bevölkerung denken leider so. Aber Noten begünstigen nur das Lernen für die Prüfung. Wenn Kinder entwicklungsgerecht lernen dürfen, lernen sie aus sich heraus.

WELT ONLINE: Lassen sich soziale Unterschiede durch Schule ausgleichen?

Largo: Wenn die Kinder in die Schule kommen, dann ist der Zug schon abgefahren. Wer etwas verbessern will, muss im Vorschulalter ansetzen. Rückstände beispielsweise in der Sprachkompetenz, die sich in den ersten fünf Lebensjahren einstellen, lassen sich später kaum noch aufholen. Dem längeren gemeinsamen Lernen und damit einer späteren Aufteilung der Kinder kommt dagegen eine große Bedeutung bei der Sozialisierung zu.

WELT ONLINE: Wann sollte die Entscheidung für eine weiterführende Schule fallen?

Largo: Es gibt keine guten pädagogischen Gründe, die Kinder zu früh zu trennen, sondern nur sozialpolitische und elitäre, die pseudopädagogisch begründet werden. Deutschland beendet die Gesamtschule in der vierten Klasse, die Schweiz in der sechsten und Finnland erst in der neunten Klasse. Wer ist Pisa-Weltmeister? Finnland. Eine Gesamtschule ist also offensichtlich kein Nachteil – sofern das pädagogische Konzept stimmt.

Sozialdarwinismus als Schulkonzept

Schulen offen halten oder schließen? Das ist die falsche Alternative. Der Schulbetrieb scheitert an seinen eingebauten Schwächen und überzogenen Erwartungen

Kommentar der anderen

Stefan Thomas Hopmann

14. November 2020, 08:00

Die Krise wäre ein Anlass, die Schule auf ihr Kerngeschäft zurückzuführen, sagt Bildungsexperte Stefan Thomas Hopmann im Gastkommentar.

Politik besteht nach Niklas Luhmann aus Entscheidungen unter der Bedingung von Ungewissheit. In genau so einer Situation befinden wir uns anscheinend gegenwärtig. Epidemiologisch ist wenigstens umstritten, wie viel Kindergärten und Schulen oder unterschiedliche Altersstufen zur Verbreitung von Covid-19 beitragen. Pädagogisch ist dagegen gesichert, dass fehlender Schulbesuch für viele Kinder und Jugendliche mit erheblichen psychosozialen Nachteilen verbunden ist und zudem sozial Schwächere mehr belastet. Ohne Schulbetrieb fehlt ihnen die soziale Nähe, die konstitutiv für eine gesunde psychische und schulische Entwicklung ist. Unklar ist zudem, ob rasches Eindämmen oder behutsames Einschränken des sozialen Umgangs ökonomisch der langfristig bessere Weg wäre. Zwischen epidemiologischer Vorsicht und sozialer Rücksicht einen angemessenen Kompromiss zu finden, ist in demokratischen Gesellschaften wie der unseren eine politische Abwägung, die sich durch keine Wissenschaft ersetzen lässt.

Chronische Probleme

Dieses vermeintliche Entweder-oder zwischen Offenhalten und Schließen des Schulbetriebs ist aber in einem entscheidenden Punkt irreführend. Welche Rolle Kindergärten und Schulen während der Pandemie spielen, ist ja keine allein vom Virus bestimmte Größe. Man hätte ja auch die Zeit seit der ersten Corona-Welle dazu nutzen können, alle Bildungseinrichtungen auf die wahrscheinliche zweite Welle vorzubereiten: technisch durch eine bessere Ausstattung von Schulen, Lehrkräften und Schülerschaft; organisatorisch durch eine Auffächerung des Schulalltags, die zeitlich versetzte Anfänge, Gruppenteilungen und flexible Unterrichtsgestaltung erlaubt; personell durch Einstellung des dafür notwendigen Betreuungspersonals.

Leider gehören technologische Rückständigkeit, organisatorische Erstarrung und der Mangel an Assistenzpersonal zu den chronischen Problemen des österreichischen Bildungswesens, die seit Jahrzehnten bekannt sind. Ärgerlicherweise kommt hinzu, dass sich der Bundesminister als Minister für gymnasiale Schulangelegenheiten bei gelegentlicher Berücksichtigung sonstiger Schulformen zu begreifen scheint. Das wenige, was er zustande bringt, ist zunächst meist auf die Bundesschulen, sprich: Gymnasien, beschränkt. Alle anderen werden auf die leeren Kassen der Bundesländer vertröstet.

Viele Schwachstellen

Es gibt jedoch jenseits dieser Schwachstellen einen noch viel grundlegenderen Fehler in der Herangehensweise des Ministeriums. Wie schon in der ersten Pandemiewelle sind dessen Bemühungen vor allem darauf gerichtet, so viel vom Lehrplan und den darauf aufbauenden Prüfungen zu retten wie nur möglich. Dass dies bei Online-Unterricht zulasten derjenigen geht, die über weniger außerschulische Bildungsressourcen verfügen, ist seit langem bekannt. Einschlägige Forschung lässt erwarten, dass genauso im Pandemie-belasteten Schulunterricht weniger Wissen als sonst verbreitet wird und die sozialen Gräben tiefer werden. Wie viel Lernen dabei auf der Strecke bleibt, ist noch ungewiss, nicht aber, wen es trifft. Die Strategie des Ministeriums ist also nichts anderes als blanker Sozialdarwinismus mühsam verkleistert durch scheinheilige Hilfsangebote wie die für diesen Zweck folgenlosen Sommerkurse.

„Nicht die Menge, sondern die Qualität ist entscheidend.“

Auch dieses Problem ist nicht erst durch die Pandemie entstanden, sondern Folge von zwei Jahrzehnten Bildungspolitik, die – angetrieben von Pisa-Angst und als Bifie institutionalisiertem testtheoretischen Größenwahn – die Leistungserwartungen im Schulbetrieb immer weiter ausdifferenzierte bis hin zu den jetzt im Umlauf befindlichen Fantasien von lückenlosen Kompetenzen in tausenderlei Dingen. Dabei wird übersehen, dass Schule historisch und empirisch gar nicht als Ort unbegrenzter Wissensanhäufung konstruiert ist, sondern – wie Humboldt das schon vor 200 Jahren formuliert hat – als Ort, an dem es um das „Lernen des Lernens“ geht. Dafür kommt es darauf an, exemplarisch verschiedene Modi des Weltverstehens auszuprobieren: mathematisch, sprachlich, naturwissenschaftlich, ästhetisch, religiös. Nicht die Menge, sondern die Qualität ist entscheidend. Deswegen waren Lehrpläne ursprünglich auch nicht als Pflichtprogramm, sondern als Angebot konstruiert, aus dem je nach lokalen Erfordernissen ausgewählt werden konnte. Das erlaubt nicht zuletzt jenen, die weniger Ressourcen haben oder mehr Hilfe brauchen, sich solidere Grundlagen für das eigene Lernen zu verschaffen.

Lehrkräfte loben

Krisen können eine Chance sein. Das Scheitern des Schulbetriebs an seinen eingebauten Schwächen und überzogenen Erwartungen könnte Anlass sein, Schule wieder auf ihr Kerngeschäft zurückzuführen. Als ersten Schritt bedürfte es dafür nicht mehr, als den Lehrkräften die von Humboldt angedachte Lehrplanfreiheit zurückzugeben: Konzentriert euch auf das, was genau euren Kindern und Jugendlichen zu nachhaltigen Lernerfahrungen verhilft. Interessanterweise haben viele Lehrkräfte dies in der ersten Pandemiewelle versucht. Man hätte sie loben sollen, anstatt immer wieder auf offenkundig untauglichen Vorschriften zu beharren. Aus ministeriellen Fesseln entlassen, wäre es für die meisten Bildungseinrichtungen auch viel einfacher, Pandemie-verträgliche Organisations- und Arbeitsformen umzusetzen und so den Schulbetrieb offen zu halten. Laut Luhmann sind die meisten Ungewissheiten, zwischen denen Politik glaubt sich entscheiden zu müssen, von ihr selbst erzeugt. So ist es auch in diesem Fall. (Stefan Thomas Hopmann, 14.11.2020)

Erschienen in: DERSTANDARD am 14.11.2020

Unter: https://www.derstandard.at/story/2000121698930/sozialdarwinismus-als-schulkonzept