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Marginalisierte Eltern für die Erziehungsarbeit und für die Zusammenarbeit mit der Schule stärken

von Mag.a Dr.in Gertrud Nagy

Der Beitrag für die Plattform „Quo vadis Schule Innsbruck“ geschrieben, basiert auf dem Buch „Können sie nicht oder wollen sie nicht. Zur Beteiligung marginalisierter Eltern an Schulpartnerschaft und Elternbildung“. (Nagy 2019, Innsalz)

Eltern sind ein zentraler Faktor für das Gelingen der kindlichen Entwicklung und für den Lernerfolg. Das ist von Vorteil für Kinder aus bildungsnahen Familien und von Nachteil für jene aus bildungsfernem Milieu. Der Zusammenhang zwischen den sozioökonomischen Merkmalen von Familien mit dem Schul- und Bildungserfolg verstärkt daher Bildungsungleichheiten zu Lasten von Kindern aus marginalisierten Familien, die gesellschaftlich am Rand leben.

Die Zusammenarbeit mit der Schule ist eine Möglichkeit, kompensatorisch und präventiv schulische Misserfolge zu vermeiden. Daher sind Erziehungsberechtigte durch das Schulunterrichtsgesetz zur schulpartnerschaftlichen Zusammenarbeit verpflichtet. Aus der Sicht der Erziehungswissenschaft profitieren vor allem Kinder aus sozioökonomisch schwachem Elternhaus: Der Austausch und die Beratung mit Lehrpersonen fördern die Vermittlung einer positiven Einstellung und Orientierung für das Lernen in der Familie und in der Schule.

Wie verläuft die Praxis der Schulpartnerschaft an Brennpunktschulen?

Ausgangspunkt sind die Beobachtungen zweier erfahrener Leiterinnen von Brennpunktschulen an der Sekundarstufe I (Wien und Berlin). An ihren Schulen werden ausschließlich Kinder mit sozioökonomisch schwachem familiärem Migrationshintergrund unterrichtet (Stand 2017/18).

Die Schulleiterinnen berichten übereinstimmend, dass Eltern auf der individuellen Ebene, bei der es um das einzelne Kind geht, schwer für die Zusammenarbeit zu erreichen sind. Obwohl beide Schulen plausibel nachvollziehbar um eine förderliche Willkommens- und Begegnungskultur für ihre spezifische Elternschaft bemüht sind, kommen die Eltern meist erst bei defizitorientierten Anlässen, wenn die Schulen dies mit Nachdruck einfordern.

Auch auf der institutionalisierten Ebene, bei der es sozusagen um das Wohl ganzer Klassen, Schulstufen und der Schule insgesamt geht, gelingt es an beiden Schulen nur unter großem Bemühen der Schulleitungen, Eltern für die Arbeit in schulpartnerschaftlichen Gremien zu rekrutieren.

Was macht Eltern an Brennpunktschulen schwer erreichbar?

Auf der individuellen Ebene der Schulpartnerschaft sehen die Schulleiterinnen das (gezeigte, nicht aber unbedingt faktische) Desinteresse an schulischen Belangen der Kinder als zentrale Barriere. Konkret angeführt werden überdies individuelle Hindernisse wie mangelnde Deutschkenntnisse, fehlendes Wissen zum Schulsystem sowie vom Herkunftsland übernommene kulturelle Erfahrungen und Einstellungen zur Rolle von Eltern und Schule. Auf der institutionalisierten Ebene wird das geringe Selbstvertrauen angesprochen und die Angst, sich zu blamieren.

Diese Beobachtungen entsprechen jenen aus der Fachliteratur, wo Hindernisse für die Zusammenarbeit nach schulstrukturellen, sozialen, familiären und individuellen Faktoren kategorisiert werden. Ich beschränke mich hier auf die Bedeutung der individuellen Faktoren, die insbesondere mit den sozialen verknüpft sind. Denn wer in einer prekären Lebenslage ist – und meist selbst als Kind in einer prekären Lebenslage sozialisiert wurde -, hat mit zahlreichen individuellen Barrieren für den Kontakt mit der Schule zu kämpfen: Geringe Überzeugung von Selbstwirksamkeit, Befürchtung von Schuldzuweisungen, Scham und Minderwertigkeitsgefühle, Misstrauen gegenüber staatlichen Institutionen wie der Schule, aber auch unzureichende Kompetenzen in der Kommunikation, unzureichende Kenntnisse der deutschen Sprache und Unwissen über das Schulsystem.

Für Eltern an Brennpunktschulen ist anzunehmen, dass es auch schulsystembedingte Auslöser für Gefühle der sozialen Scham und der Minderwertigkeit gibt: Sie wissen, dass es ausschließlich ihre Kinder sind, die im urbanen Raum eine öffentliche Hauptschulform besuchen, ob sie nun Neue Mittelschule (Wien) oder Gemeinschaftsschule (Berlin) heißt. Diese Erfahrung ist eine von vielen sozialen Herabsetzungen, die kaum zum elterlichen Vertrauen in ihre Selbstwirksamkeit beiträgt.

Wie sich Eltern gegenüber der Schule verhalten, ist daher auch soziologisch erklärbar aus ihrer gesellschaftlichen Position: Eltern an Brennpunktschulen sind am Rande der Gesellschaft positioniert, was zum Vermeidungsverhalten gegenüber der Institution Schule beiträgt. Sie wollen daher nicht mit der Schule zusammenarbeiten, weil sie es nicht können. Oder viceversa …

Ist Elternbildung ein Instrument zur Stärkung der Eltern?

Auch Schulen brauchen in ihrer spezifischen Lage als Brennpunktschulen mehr als andere Unterstützung und Stärkung zur Bewältigung ihrer großen Herausforderungen, zu denen die schwere Erreichbarkeit ihrer Schulpartner zählt. Aber das ist eine andere Geschichte.

Ich beschränke mich hier auf Überlegungen zur Stärkung der Eltern in der familiären Erziehungsarbeit und in der Zusammenarbeit mit Bildungseinrichtungen. Ein möglicher Ansatz ist die Elternbildung als eine Variante der Erwachsenenbildung. Sie bietet grundsätzlich allen Eltern die Möglichkeit, sich Kompetenz, Wissen und Erweiterung der Handlungsmöglichkeiten anzueignen oder zu erweitern.

Zu diesem Bereich zeigt die Familienforschung, dass sozioökonomisch schwache Eltern für Elternbildung noch weniger erreichbar sind als für die Zusammenarbeit mit der Schule. Ein spezifisches Hindernis ist die Assoziation von Elternbildung oder Elternschule mit eigenen negativen Erfahrungen aus der Schulzeit.

Wo und wie also ansetzen, um dennoch diese spezifische Elterngruppe zu erreichen?

Eine Chance liegt im Wunsch fast aller Eltern, dass sich ihr Kind gut entwickelt und in der Schule Erfolg hat. Was zur Motivation für eigene Weiterbildung werden kann, basiert auf zwei möglichen Erkenntnissen: Das Wissen um die eigene Bedeutung als Erfolgsfaktor für die gedeihliche Entwicklung des Kindes sowie die Tatsache, dass die Weichen dafür bereits vor Schuleintritt gestellt werden: Was bis zur Einschulung an Förderung der sprachlichen, kognitiven, allgemeinen, emotionalen, sozialen und motivationalen Kompetenzen versäumt wird, lässt sich selbst bei intensivem Training später nur bedingt nachholen.

Die Empfehlung der Entwicklungspsychologie lautet daher, mit der Elternbildung bei der frühkindlichen Entwicklung anzusetzen. Das ist leichter gesagt als getan, weil die Kluft zwischen Präventionsbedarf und Nutzung von Präventionsangeboten groß ist: Eltern, die am meisten davon profitieren könnten, sind freiwillig nicht erreichbar. Eine von manchen Seiten daher vorgeschlagene verpflichtende, mit Sanktionen verbundene Elternbildung, ist aber kontraproduktiv für die Bereitschaft zur Weiterbildung.

Welche Strategien zur Förderung der Erreichbarkeit bieten sich alternativ an?

Mein Vorschlag lautet Gratifikation statt allfälliger Sanktion, durch Erweiterung des (österreichischen) Mutter-Kind-Passes zu einem „Eltern-Kind-Pass“, in dem Nachweise der Kontrollen zur frühkindlichen Entwicklung durch Nachweise der Teilnahme an Modulen der Elternbildung ergänzt werden:

Analog zum Bonus-System des Mutter-Kind-Passes bis 2002 (Geldbetrag abhängig von der Beitragsgrundlage zur Sozialversicherung) wird ein Geldbetrag für Eltern in finanziell prekärer Lage zum extrinsisch motivierten Anreiz.Der Eltern-Kind-Pass wird, wie der Mutter-Kind-Pass, an alle werdenden bzw. jungen Eltern ausgegeben. Es kommt daher weder zu Diskriminierung oder Stigmatisierung als marginalisierte Eltern.Die Teilnahme an Modulen der Elternbildung zur kindlichen Entwicklung ist freiwillig, weil es keine Sanktionen bei fehlendem Nachweis im Eltern-Kind-Pass gibt.

Dieser Vorschlag soll zur Diskussion und zu weiteren Ideen darüber anregen, wie sozioökonomisch schwache Eltern zum Wohle ihrer Kinder gestärkt werden können. Denn eines der Rädchen, an denen gedreht werden muss, um Bildungsungleichheit zu verringern, ist die Verbesserung ihrer Ausgangslage für eine entwicklungsförderliche familiäre Erziehungsarbeit und für eine schulpartnerschaftliche Zusammenarbeit mit der Schule.

Die Rolle der Gewerkschaft

Unbestritten spielt die LehrerInnengewerkschaft eine bedeutsame und starke Rolle im Schulwesen. Dabei betonen zwar alle Fraktionen ihre Unabhängigkeit, von ihren Positionen und Verflechtungen her ist jedoch eine parteipolitische Tendenz erkennbar, bei den einen mehr, bei den anderen weniger. Dementsprechend spielen sie auch bei dem einen oder anderen schulpolitischen Thema den verlängerten Arm der politischen Parteien. Und sie sind ihrer Klientel, ihren WählerInnen verpflichtet, sodass sich der Status quo des derzeitigen Schulwesens einerseits aus der Ideologie der stimmenstärksten Partei und Gewerkschaftsfraktion in Österreich mehr oder weniger ergibt. Da sind große Änderungen, Neuerungen wie z.B. Notenverzicht in der Volksschule oder die gemeinsame Schule nicht zu erwarten.

Da die Gewerkschaftsarbeit sich vor allem, verständlicherweise naturgemäß und in ihrem Selbstverständnis, an der Wählerschaft (LehrerInnen) orientiert, ist sie auch nicht systemisch angelegt. Weder innerhalb der unterschiedlichen Strömungen der Lehrerschaft noch innerhalb des Systems Schule (LehrerInnen, Eltern, SchülerInnen, Direktorinnen und Direktoren), da ja alle diese Beteiligten ihre eigene Lobby haben.

Dies verstellt leider auch häufig den großen Blick auf das Gesamte. So zum Beispiel geschehen in den Jahren 2008/09 und 2012/13, als die Regierung aus Kostengründen auf die Idee kam, die Lehrverpflichtung der AHS- und BHS-LehrerInnen auf 22 („abgewehrt“ – eigentlich teuer erkauft – mit dem Sparpaket 2009) und dann aller Lehrer*innen auf 22+2 Stunden zu erhöhen (ohne Sozialpartnereinigung im Nationalrat als neues Dienstrecht beschlossen). Den Schülerinnen und Schülern war das eher egal, ebenso den Eltern und der Öffentlichkeit sowieso (da man ja ohnehin davon ausgeht, dass die Lehrerschaft zu wenig arbeite). Um die Situation zu retten, handelte die Gewerkschaft einen Kuhhandel aus: Man ließ die „Altlehrerinnen und Altlehrer“ aus und beglückte die künftigen „Junglehrerinnen und Junglehrer“ damit. Als Zuckerl und Argumentationshilfe wählte man die Gehaltskurve, die für die Junglehrerinnen und Junglehrer nun steiler beginnt und später flacher wird. Heißt: Manche JunglehrerInnen verdienen nun am Anfang mehr, am Ende steigen die Löhne nicht so stark an wie bei den „Altlehrerinnen und Altlehrern“, insgesamt jedoch verringert sich (wenn man die Arbeitszeit berücksichtigt) bei fast allen die Lebensverdienstsumme, bei L1 im Vergleich mit pd um einen 6-stelligen Eurobetrag. Ein wahrliches Meisterstück der Bildungssparmeister!

Aber: Da auch durch die Abschaffung des Unterrichtspraktikums von Anfang an wesentlich mehr Stunden gehalten werden müssen und Aufgaben wie Klassenvorstehung oder Kustodiat verpflichtend dazukommen, ist es systemisch gesehen klar eine Verschlechterung der Arbeitssituation und des Einkommens der Junglehrerinnen und Junglehrer, der Qualität der Begleitung der einzelnen Schülerinnen und Schüler und damit auch der Erwartung der Eltern, was eine Schule leisten soll.

Diese Liste könnte man durchaus weiterführen, z.B. beim Weitergelten aller Verschlechterungen des 2009er-Sparpakets trotz nun wesentlich höherer Unterrichts- und Betreuungsverpflichtung.

Fazit: Es führt kein Weg an der stimmenstärksten LehrerInnengewerkschaft vorbei. Sie ist ein verlängerter Arm der Regierung. Entweder als Unterstützer, ist die ÖVP an der Macht, oder als Opposition, ist die SPÖ an der Macht, sie ist mehr oder weniger ihren Mitgliedern verpflichtet, hat also selten einen systemischen Blick auf das Ganze und verhindert, wenn man sich die letzten Jahrzehnte ansieht, ein zukunftsorientiertes Schulsystem.

Ob das noch lange so gehen wird, werden wir sehen. Die Situation in der Kirche, aber auch in der Weltpolitik unter Corona zeigt ja deutlich auf, dass das Festhalten an überholten Ideen und Strukturen, sowie die fehlende Zusammenarbeit nicht zukunftsorientiert sind und uns mehr schaden als nützen.

Markus Astner

Brennpunkt „Brennpunktschulen“

Schulen mit besonderen Herausforderungen 

Auf sozial benachteilige Kindern Rücksicht nehmen, heißt nicht, sie mit Almosen abzuspeisen, ihnen vorzumachen, dass jeder auch einmal Millionär werden kann, wenn er sich nur anstrengt und sie in Schulen zu separieren unter fadenscheinigen Vorwänden.

Auf benachteiligte Kinder Rücksicht nehmen, heißt, ihnen Achtung, Respekt, Einfühlungsvermögen und Verständnis für ihre Situation entgegenzubringen, Hilfe zur Selbsthilfe bieten, damit sie einmal aus dem Kreislauf ausbrechen können, sie in unterschiedlichen Belangen durch ein Unterstützungspersonal zu stärken und ihnen die gleichen Chancen zu ermöglichen wie auch allen anderen Kindern und sie mit diesen auch in eine gemeinsame Schule gehen zu lassen. 

Auf benachteiligte Kinder Rücksicht nehmen, heißt, gegen die Entstehung und Beibehaltung von Brennpunktschulen einzutreten, denn eigentlich ist es eine Zumutung, auch wenn man diesen Schulen noch so viel Unterstützung wie möglich anbietet, wenn das überhaupt der Fall ist. Und es ist nicht nur eine Zumutung gegenüber den Kindern, sondern auch gegenüber jenen, die dort mit viel Engagement arbeiten. 

Wie es den Lehrerinnen und Lehrern dort möglicherweise ergeht, wie die Situation vielleicht derzeit ist, gibt uns ein kurzer Einblick in ein Interview, welches Sabine Helmberger, eine Lehrerin aus Salzburg, mit Natalie Hangöbl, ebenfalls Lehrerin, und zwar an einer Salzburger Brennpunktschule in Salzburg, geführt hat. Veröffentlicht wurde es in der Zeitschrift „Kreidekreis“,  der Zeitung der unabhängigen österreichischen Lehrer*inneninitiative. 

PS: Auch in Innsbruck haben wir eine ähnliche Situation wie in Salzburg, auch bei uns gibt es Schulen mit besonderen Herausforderungen, die durch eine verfehlte Bildungs- und Wohnungspolitik sowie den Ausgrenzungstendenzen unserer Gesellschaft benachteiligt werden.  

Mag. Markus Astner

Natalie, du bist seit sieben Jahren Lehrerin an einer Salzburger Brennpunktschule. Viel ist die Rede davon, dass Corona jene Schulen unter ein Brennglas gerückt hat. Wie siehst du das?  

Tja, daran besteht kein Zweifel. Und es stimmt, unsere Schule besuchen vor allem jene Kinder, die sonst nirgends unterkommen. Aber dieser großen Empörung aktuell kann ich wenig abgewinnen, fast finde ich sie zynisch. Unsere Schule war bereits vorher trauriger Beweis einer verfehlten Bildungs- wie Wohnpolitik. Daran ist nichts neu.  

Wie ist es den Kindern deiner Schule während der Schulschließungen ergangen? 

Wichtig war, dass wir die Kinder zur Betreuung in die Schule holen konnten. Manche hätten wir sonst komplett verloren. Die Älteren waren zum Teil sehr versiert, was technische Dinge oder Organisation angeht. Außerdem möchten sie ein gutes Abschlusszeugnis, was die Motivation steigert. Meine Klasse, eine erste, hingegen verbrachte bereits einen Großteil der letzten Volksschulklasse im Lockdown. Dazu kam der Schulumstieg mit einem vollkommen neuen Umfeld und gerade am Anfang scheiterten viele an ganz basalen Dingen: „Habe ich meine richtigen Sachen dabei?“, „Wo finde ich die Übungen?“ Wir wissen, wie der Alltag in manchen Familien aussieht, der das Lernen zuhause zusätzlich erschwert; viele Kinder, wenig Platz, schlechte Ausstattung, begrenztes WLAN. Dazu kommt eine andere Schulkultur.  

Kannst du diesen Gedanken der Schulkultur etwas näher ausführen?  

In Österreich gibt es den Wunsch ans Schulsystem, dass Kinder um 13 Uhr nachhause kommen, am Nachmittag selbstständig weiterarbeiten, die Eltern unterstützend begleiten. Zudem soll auch Freiraum für Freizeitaktivitäten, Familienleben etc. bleiben. Die Voraussetzungen, mit denen wir vor Ort konfrontiert sind, sind aber komplett andere. Bei vielen unserer Kinder passiert zuhause nichts. Die Schultasche wird nicht aufgemacht, niemand fragt „Hast du Hausübungen?“ Diese unterschiedlichen Ausprägungen werden in der Diskussion um die Ganztagsschule offensichtlich und haben sich während der Pandemie zugespitzt. Schule hat zuhause keinen Raum. 

Du hast im Vorfeld erwähnt, wie schwierig es war, nicht nur die Kinder, sondern überhaupt die Eltern zu erreichen…  

Die Eltern an Bord zu holen ist zum Wohl des Kindes das Um und Auf. Die Kommunikation war bereits vor Corona schwierig, nun wurde sie fast verunmöglicht. Dabei war das primäre Problem nicht die mangelnde Bereitschaft der Eltern, sondern die Sprachbarriere und andere Gründe. Es ist nur unter großen Mühen möglich, Dolmetscher*innen anzufordern, die das oft eher hobbymäßig betreiben. Von oberer Stelle werden Infos oft nur auf Türkisch oder Serbokroatisch ausgegeben, während wir sie in Arabisch, Farsi/Dari, Somali oder Albanisch bräuchten. Das Bewusstsein für das Problem ist nur minimal da, aber zumindest erhielten wir die Einverständniserklärungen zu den „Nasenbohrer-Tests“ in 12 Sprachen.  

Welche Unterstützungsmaßnahmen gibt es an der Schule?  

Dank der Bemühungen der Schulleitung hatten wir als eine der ersten Schulen Sozialarbeiter*innen. Sie betreuen auch das nahegelegene JUZ dadurch kennen sie viele Kinder in einem privateren Rahmen, was für das Gesamtbild hilfreich ist. Das entlastet uns als Lehrer*innen natürlich. Aber für mich als Klassenvorständin ist die Koordination neben einer vollen Lehrverpflichtung oft kaum schaffbar. Ich leite auffällige Kinder an die Sozialarbeiterin weiter, schicke sie zur Schulpsychologie, koordiniere Verdachtsfälle auf Gewalt oder Missbrauch, der Kontakt mit den Eltern läuft über mich etc. Abgegolten wird diese wichtige Arbeit mit 70 Euro im Monat zehnmal im Jahr. Es kommt daher häufig vor, dass Lehrer*innen zur KV-Tätigkeit gezwungen werden, weil sich freiwillig zu wenige melden. Krankenstände oder Burn-out sind die Folge. Ich bin jung, habe keine Kinder, aber ob ich das in zehn Jahren auch noch so machen will, da bin ich mir nicht so sicher. 

Vielen Dank für das Gespräch 

Verbesserungswürdige KOOPeration

Leider könnte die Kooperationsbereitschaft der ansässigen Schulen, politischen Parteien, Gewerkschaftsfraktionen, Pädagoginnen und Pädagogen, Direktorinnen und Direktoren sowie der Elternschaft auch in Innsbruck besser sein. Ausnahmen sind eine Rarität, aber zum Glück gibt es sie.

Fakt ist, wenn auch nicht laut ausgesprochen und durch Zahlen nicht belegbar: Mancherorts herrscht Neid und Missgunst unter den Schulen, wer wohl die erfolgreichere Schule ist, wer die „besseren“ SchülerInnen sein Eigen nennen darf; ein Konkurrenzkampf ob der SchülerInnenzahl und ein Konkurrenzkampf innerhalb der Lehrerschaft, verstärkt auch noch durch die Lehrerbewertungs-App von Hadrian, wer wohl der beliebteste Lehrer/die beliebteste Lehrerin ist; eine möglicherweise falsche Vorstellung, was so in den Gymnasien verlangt wird oder nicht oder aber was die VolksschülerInnen eigentlich schon können sollten oder nicht; eine fehlende Kooperation und fehlende Achtung zwischen den Pädagogen und Pädagoginnen innerhalb einer Schule als auch zwischen den unterschiedlichen Schularten und auch die Lehrergewerkschaft trägt durch die fehlende Zusammenarbeit, da klientelorientiert, ihr Scherflein dazu bei, selbiges gilt auch für die politischen Parteien. Und auch die Elternschaft teilt sich in unterschiedliche Lager, (nicht unverständlicherweise) bedingt durch ihre Angst, die eigenen Kinder könnten ins Hintertreffen gelangen. Und immer wieder ideologische Schranken.

Und dies wird alles auf den Rücken der Schülerinnen und Schüler ausgetragen, nicht offen, meist versteckt, unbewusst, aber auch bewusst, unwissend wie wissend und immer auch unvermögend, vor allem jedoch meistens zum Schaden benachteiligter Kinder. Tricksereien stehen an der Tagesordnung.

Lösungsansätze: Vermehrte Kooperation, Dialog und Austausch zwischen allen Beteiligten, mehr Bemühen, weniger Eigeninteresse, und zwar im Sinne aller Kinder unserer Stadt. Die dafür nötigen zeitlichen Ressourcen müssten jedoch von oberster Stelle dafür bereitgestellt werden, denn wir alle gehen in Arbeit unter!!! Bürokratie, dauernde zusätzliche unnötige Belastungen und Änderungen sind der Feind eines gemeinsamen zukunftsorientierten, systemisch orientierten Miteinanders (schön wäre, wenn wir uns endlich einmal unserer eigentlichen Berufung und einem gemeinsamen Dialog widmen könnten), leider aber auch die fehlende Bereitschaft mancher in Innsbruck/Tirol/Österreich Beteiligten.

Markus Astner

Wie Inklusion gelingen kann, wenn es „menschelt“…

Zur Verfügung gestellt von Wolfgang Begus, Obmann des Vereins „Integration Tirol“ (https://www.integration-tirol.at/)

Ein Kind mit autistischer Wahrnehmung wird immer „schlimmer“ in der Schule und Situationen eskalieren immer wieder. In persönlichen Gesprächen stellt sich dann heraus, dass der Klassenlehrer (ist auch Direktor) Mobbing zulässt und teilweise auch daran teilnimmt. Das Kind wird als „komisch“ und „blöd“ wahrgenommen. Ein Störfaktor in der Klasse…
Laut Klassenlehrer wird nie was aus dem Kind werden und es soll in eine Sonderschule…

Letztlich war die Volksschulzeit voller „Missverständnisse“: Der Lehrer hat nie wirklich hingeschaut und das Kind nie wirklich wahrgenommen. Das Kind hat ihn gestört, weil es anders war und seiner vorgefertigten Meinung nicht entsprochen hat. Und das Kind hat – wie die ganze Familie – sehr darunter gelitten.

Probleme entstehen so gut wie nie durch das „Anderssein“, sondern immer durch das Ignorieren und nicht wahrhaben wollen von Menschen, die anders denken, fühlen, aussehen… Also aus Mangel an Respekt und einem Mangel an der eigenen Flexibilität

Die entnervten Eltern suchten also eine neue Schule und ausgerechnet ein Gymnasium hat das Kind dann gerne aufgenommen. Die Direktorin war gerne bereit dazu und die Lehrerschaft stand großteils hinter der Entscheidung! „Wir wollen dazulernen“ war der Vorsatz….
Umdenken und mal neue Wege gehen…

Eine ganz tolle Klassenvorständin hat das Kind letztlich ins Herz geschlossen und eine erfahrene Schulassistentin wurde hinzugezogen. Um das finanzierbar zu machen, mussten der Verein „Integration Tirol“ eine Schlichtung anstreben und zwei Mal nach Wien fahren, um das Bildungsministerium zu überzeugen, dass die bestehenden Richtlinien für Schulassistenz an Bundesschulen diskriminierend und nicht zielführend sind. Da ist den Eltern und der Schule in Zusammenarbeit mit dem Verein gelungen!
Lösungen werden immer von beteiligten Menschen ermöglicht, deren Haltung, deren Menschenbild…

Am Ende erhielt das Kind Assistenz für die Schulzeit und für den Schulweg! Und das erstmals in Österreich trotz nicht „ausreichender Pflegestufe“. Und die Schuldirektorin war wirklich stolz, was uns da in guter Zusammenarbeit aller gelungen ist. Es war schön zu lesen, dass sich ausgerechnet eine Direktorin eines Gymnasiums so stark für ein Schulkind mit einer anderen Denk- und Wahrnehmungsweise einsetzt und auf diese Art auch für ihre gute Schule kämpft! Und einige Lehrpersonen (vor allem die Klassenvorständin) haben super mitgewirkt!
Solidarität und nochmals Solidarität! Und Verantwortung übernehmen!

Als Abrechnungsprobleme mit dem für die Assistenz zuständigen Dienstleister auftraten, hat sich die Stiefmutter erfolgreich um einen neuen Abrechnungspartner bemüht – und einen gefunden, der auch vom Ministerium anerkannt wurde.

Niemand kann der Politik genauer sagen, was es braucht, als Eltern und Betroffenen.

Und es kam noch besser: Die Klasse plante eine Sprachreise nach London und wollte niemanden daheim lassen. Also wurde auch das möglich gemacht! Das erste Kind ohne hohe Pflegestufe, das Assistenz für eine Auslandsreise erhalten hat… und es war letztlich eine tolle und unproblematische Zeit, auch wenn die Vorbereitungen mit Kampf, vielen Gesprächen und Überzeugungsarbeit zu tun hatten. Am Ende war alles gut.
Es ist immer noch beschämend, dass bei fast allen Problemlösungen das Kindeswohl gegen politische und bürokratische Eigentümlichkeiten antreten muss.

Allerdings ist es leider bis heute so, dass die Eltern die Kosten für die Assistenz bei Klassenfahrten, Schulausflüge, Exkursionen, etc. selbst tragen müssen und damit zumindest das Doppelte – zuzüglich der Gehaltskosten für die Assistenz – von dem bezahlen müssen, wie Eltern von Kindern ohne Assistenzbedarf.
Und immer wieder droht es an den Finanzen zu scheitern.

Das Kind – mittlerweile eine junge erwachsene Person – ist ganz lange schon ein voll akzeptiertes und gleichwertiges Mitglied der Klassengemeinschaft. Es ist respektiert und wahrgenommen. Samt den Denkunterschieden und trotz der unterschiedlichen sozialen Wahrnehmungsfähigkeiten ist vollkommen klar, dass Menschen zwar in ihrer Art unterschiedlich sind, aber alle einen passenden Platz in der Gemeinschaft haben müssen!
Menschen, die über den Tellerrand blicken, die Kinder in ihrer Einzigartigkeit wahrnehmen sind das Fundament einer guten Schule. Nicht Homogenität, sondern Heterogenität bringt uns weiter.

Die Prophezeiung, dass nur eine Sonderschule, oder gar keine Schule das Beste wäre, hat sich nicht bewahrheitet! Heuer ist das Jahr der Maturvorbereitung und anschließend (niemand zweifelt daran!) wird wohl ein Studium folgen… Und die Klassenvorständin bedauert heute schon, dass diese gemeinsame Zeit bald enden wird. Es sind für alle ganz wichtige und schöne Beziehungen entstanden, die man vielleicht nicht als „klassische Beziehungen“ bezeichnen kann, aber die alle Beteiligten bereichert und verändert haben. Die Familie, die Lehrpersonen, die Mitschüler, uns von Integration Tirol und sogar auch die beteiligten Personen im Landesschulrat.
Was so alles gelingen kann, wenn nur alle wollten!

Auch wenn die Geschichte anonymisiert ist, sie ist wahr und schön! Es musste viel erkämpft werden, aber es ist alles gelungen. Und der Jurist im Landesschulrat, der bei der ersten Schlichtung noch eher ablehnend und sehr zurückhaltend war, hat sehr spontan und gerne für das Maturajahr eine kleine, aber hilfreiche zusätzliche Unterstützung befürwortet… in diesem Fall wurde aus Skepsis wohlwollende Überzeugung.

Allerdings muss man dazusagen, dass die Bezirkshauptmannschaft, bzw. die Sozialabteilung bei jedem Problem ihr Unterstützungsangebot auf eine weitere Therapie beschränkt hat. Obwohl lange schon klar war, dass die betroffene Person lange schon weitere Therapien ablehnt, sich selbst als „therapieresistent“ betrachtet und sich ganz andere Unterstützungen gewünscht hat. Auch der soziale Dienstleister hat sich bis zum letzten Jahr aus der gesamten eher zurückgehalten und die Unterstützung dem Helfer vor Ort überlassen. Beide – Dienstleister wie auch die Sozialabteilung – sind da an ihrer mangelnden Flexibilität immer wieder mal gescheitert.

Wenn irgendwelche Problem mit Kindern auftauchen, wird immer noch viel zu oft auf eine Therapie verwiesen. Es lässt sich nicht jedes Kind an den Mainstream hin therapieren. Für eine echte Teilhabe braucht es nicht immer nur eine Therapie, sondern vermehrt Angebote und Unterstüzung zu einer wirklichen Teilhabe.

Ich wünsche mir…

Liebe Innsbruckerinnen und Innsbrucker!

Ich bedanke mich recht herzlich bei allen Politikerinnen und Politikern, Verantwortlichen in der Bildungsdirektion, Lehrerinnen und Lehrern, Kindergärtnerinnen und Kindergärtnern, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, Eltern…, die folgende Wünsche bereits umsetzen oder versuchen diese umzusetzen.

1. Ich wünsche mir von der Politik ausreichend Ressourcen und Unterstützung, damit wir alle SchülerInnen und deren Eltern in Innsbruck gut begleiten können. Außerdem wünsche ich mir von den Politikern/Politikerinnen, dafür einzutreten, dass der Notendruck in der Volksschule minimiert wird oder auf Noten gänzlich verzichtet wird. Weiters wünsche ich mir mehr Unterstützungspersonal (administrativ und im umfassenden Sinne, sprich Psychologinnen und Psychologen, Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, Ergotherapeutinnen und Ergotherapeuten…) an den Kindergärten und Schulen zu installieren und dafür zu sorgen, dass die Diskriminierung benachteiligter Kinder beendet wird und allen Kindern in Innsbruck ermöglicht wird, eine gemeinsame Schule der 10- bis 14-Jährigen zu besuchen.

2. Von den Kindergärtnerinnen und Kindergärtnern, Lehrerinnen und Lehrern wünsche ich mir, dass sie sich mit den neuen Erkenntnissen aus der Lern- und Lehrwissenschaft sowie Pädagogik auseinandersetzen, um einen modernen Unterricht und eine moderne Persönlichkeitsbegleitung zu ermöglichen und in den Kindergärten und Schulen zu entwickeln. Weiters wäre es toll, wenn sie sich vermehrt ihrer Rolle und Verantwortung beim Lernprozess und bei der Begleitung von Kindern und Jugendlichen bewusst werden. Dies sollte auch vermehrt in Begleitung von Supervisionen, Coaching, Hospitationen… stattfinden. Hierfür sind von politischer Seite her die finanziellen Rahmenbedingung zu schaffen und die Wahlfreiheit zu gewährleisten.  Außerdem wünsche ich mir vom pädagogischen Personal, die SchülerInnen in ihrer Gesamtheit wahrzunehmen und eine rein intellektuelle Beurteilung von Kindern zu unterlassen. Kinder sollen vielseitig, ohne übermäßigen Druck, auf das eigenständige, selbstverantwortliche Lernen fokussiert, positiv bestärkt, ihren Potentialen entsprechend… gefördert werden.

3. Ich wünsche mir von den Verantwortlichen der Bildungsdirektion, den Leiterinnen und Leitern der Kindergärten sowie Direktorinnen und Direktoren aller Schulen, sich ihrer Verantwortung zu stellen, im Rahmen der Kindergarten- und Schulentwicklung sich des Themas „Diversität“… und sich den Anforderungen des 21. Jahrhunderts anzunehmen. Weiters sollen sie  sich ihrer Aufsichtspflicht gegenüber jenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern bewusst werden und diese wahrnehmen, die Kindern nicht den nötigen Respekt, den achtsamen und verständnisvollen Umgang… entgegenbringen.

4. Ich wünsche mir von der Wissenschaft, Schulen noch mehr zu begleiten, damit die Theorie einen praxisbezogenen Eingang in die Schulen findet und nicht zur grauen Theorie verkommt. Das wäre sowohl für die Wissenschaft, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie für die Schulen ein Gewinn.

5. Von den Eltern wünsche ich mir, sich in die Diskussion konstruktiv einzubringen, die Bedürfnisse aller Kinder und nicht nur der eigenen zu berücksichtigen und die Zusammenarbeit mit den Institutionen wahrzunehmen. Von den Elternvertreterinnen und Elternvertretern wünsche ich mir, die Elternarbeit zu forcieren, damit ein Grund- und Minimalkonsens in Fragen der Erziehung/Bildung/Schule hergestellt wird und sich alle am Gelingen einer zukunftsweisenden Schule beteiligen können/wollen.

6. Von der Gesellschaft wünsche ich mir, einem elitären  und exklusiven Schulsystem eine Absage zu erteilen.

7. Von den Schulen in Innsbruck und alle am Bildungsprozess Beteiligten wünsche ich mir, in einen Dialog zu treten, zusammenzuarbeiten, im Sinne aller Kinder zu agieren und Eigeninteressen hintanzuhalten.

Ich weiß, ich sehe, ich höre, ich lese, ich empfinde, es läuft jetzt schon einiges gut und viele sind bemüht, aber was hindert uns daran, das Schul- und Bildungssystem für alle Kinder noch besser zu machen!

Und: Kommentare erwünscht!!!

Markus Astner

Run auf Gymnasien

Immer mehr SchülerInnen drängen in Innsbrucks Gymnasien

Alle Jahre wieder steigt die Zahl jener in Innsbruck, die in ein Gymnasium mit Unterstufe wollen und auch dieses Jahr lässt der „Anmeldewahnsinn“ und seine Folgen die Betroffenen und Beteiligten wieder einmal ratlos zurück.

Um dieses Problem zu lösen, verfolgt man leider auch jetzt wieder eine passive Strategie, indem man versucht, die meisten Wünsche der Eltern und Kinder so zu erfüllen, indem man zusätzliche Klassen in den Gymnasien schafft, für die diese eigentlich baulich und organisatorisch gar nicht gerüstet sind und sie daher vor große Probleme stellt.

Mein Vorschlag: Errichtung einer Modellschule in Innsbruck, um eine gemeinsame Schule der 10- bis 14-Jährigen inklusive wissenschaftlicher Begleitung zu ermöglichen, und zwar mit einem für dieses System geschulten Lehr- und Unterstützungspersonals beider Schularten und unter der Führung einer dafür qualifizierten Direktorin bzw. eines qualifizierten Direktors.

Das würde mal mittelfristig den Druck mildern. Längerfristig bin ich für eine Umstellung des ganzen Systems, und zwar wenn auf allen Ebenen die Zeit dafür reif ist. Für beides sollte man aber jetzt beginnen, damit es nicht jedes Jahr wieder einen unerbitterlichen Kampf um einen heiß begehrten Gymnasiumsplatz gibt, bei denen jene die geringsten Chancen haben, die ohnehin schon benachteiligt werden.

Markus Astner

PS: Es sei nicht verschwiegen, dass es auch andere Ansätze gibt, wie man dieser Entwicklung begegnen möchte.

Unlängst bin ich nämlich wieder einmal bei der Durchsicht meiner Unterlagen auf den Verein „Pro Gymnasium“ gestoßen und auf einen ihrer Leitartikel „Sapere aude“, der von ihrem Obmann Rainer Gögele geschrieben wurde. Den Artikel findet man unter: www.progymnasium.at . Er zeigt meiner Ansicht nach sehr deutlich auf, wie manche das Gymnasium noch elitärer gestalten möchten.

Darin fordert er, dass in die Unterstufe des Gymnasiums, seiner Vorstellung nach, nur SchülerInnen, die besonders leistungsstark seien, gehen sollen. Österreichweit meint er, sollen das nicht mehr als 20% eines Jahrgangs sein. Und: Letztentscheidend, wer unter diesen 20% sein sollte, schlägt er vor, müsse grundsätzlich der aufnehmende Schule überlassen sein.

Ich erspare mir jetzt die Fantasie, wer das dann aller sein sollte!

Heterogenität versus Homogenität – Ein Appell für mehr Vielfalt in den Klassen

Ein Interview des Initiators mit dem Initiator der Plattform

Wie lautet die Bestandsaufnahme des derzeitigen Ist-Standes bezüglich Homogenität und Heterogenität in Innsbrucks Schullandschaft?

Auch in Innsbruck orientiert sich der Geist in vielen Schulen nach wie vor am Prinzip homogenisierter Lerngruppen. Je geringer die Kompetenzunterschiede zwischen den Schülern und Schülerinnen, je angeglichener ihr Vorwissen, ihre Fähigkeiten und Begabungen und je ähnlicher die Verhaltensweisen, so glaubt man zumindest, desto besser kann der Unterricht funktionieren und desto bessere Leistungen kann man sich erwarten.

Wie versucht man in Innsbruck eine Homogenität herzustellen?

Um dieses Ziel zu erreichen, bedient man sich auch in unserer Stadt des Systems der Selektionierung sowie der bewussten Lenkung von Bildungsentscheidungen von unterschiedlicher Seite her.

Das beginnt eigentlich schon im Kindergarten und hängt stark mit der Wohnsituation zusammen. Je nachdem in welchem Gebiet man wohnt, ist nämlich die Diversität stärker oder weniger stark ausgeprägt. In manchen Stadtteilen leben recht gut situierte und bildungsnahe Bevölkerungsschichten, sodass der dortige Kindergarten über eine recht homogene Kindergruppe verfügt. In anderen Stadtteilen dagegen, die aufgrund der Wohnsituation sozial durchmischter sind, ist der Anteil der Heterogenität größer. Und, das sei auch nicht verschwiegen, gibt es natürlich in Innsbruck ebenfalls Brennpunktkindergärten, in denen sich ein hoher Anteil von Kindern befindet, die armutsgefährdet sind, deren Kenntnisse der deutschen Sprache rudimentär sind, die auf eine Förderung durch das Elternhaus nicht hoffen können. Kinder also aus marginalisierten Familien.

Auch in den Volksschulen Innsbrucks hat die Wohnsituation großen Einfluss auf die Zusammensetzung der jeweiligen Klasse, in die ein Kind gelangt. Außerdem kommt es auch manches Mal vor, dass man (auch wenn das in dem einen oder anderen Fall Sinn macht), um homogene Klassen zu erhalten, einige aussortiert, also in Vorschulklassen gibt oder im Laufe des Jahres den Erziehungsberechtigen nahe legt, ihre Kinder noch einmal die Klasse besuchen zu lassen. Damit reißt man sie aus dem gewohnten Umfeld heraus und zeigt ihnen, dass sie mit den anderen nicht mithalten können, was dazu führt, dass sie dies als massives Versagen erleben. Zumindest was die vorgegebenen Kompetenzen, vor allem in den von der Leistungsgesellschaft für wichtig erachteten Bereichen betrifft. Das, obwohl man weiß, dass Kinder mit Eintritt in den Schulalltag unterschiedlich vorgeprägt sind und die Unterschiede manchmal davon herrühren, ob sie vorher schon von der Elternschaft in schulischen Belangen gefördert wurden oder nicht. Hierbei braucht es schon einiges an Fingerspitzengefühl, an Erfahrung und Wissen sowie eingehender Beobachtung, um so etwas beurteilen zu können. Und man muss einigen Kindern auch Zeit geben. Die Reifungsprozesse sind nicht bei allen gleich. Und es gibt immer wieder auch eine Lenkung, vor allem von der privilegierten Einwohnerschaft, aber auch Direktorinnen und Direktoren „Elitevolksschulen“ zu führen bzw. „Eliteklassen“ einzurichten. Um dann in eine solche zu kommen gibt es sogar Fälle, dass Kinder, um in eine der begehrten Schulen zu gehen, an einer anderen Wohnadresse angemeldet werden oder dass intern Klassen nach einem Homogenitätsprinzip so zusammengesetzt werden, dass die vermeintlich Leistungsstarken sich in einer Klasse wiederfinden.

Noch selektiver wird es dann zum Übertritt in eine weiterführende Schule. Das in der vierten Klasse Volksschule maßgebliche Zeugnis bzw. die Ausstellung der Gymnasialreife führt dazu, dass rund die Hälfte der Innsbrucker Kinder in ein Gymnasium und rund die Hälfte eine Mittelschule besuchen. In diesem Zusammenhang muss gar nicht behauptet werden, dass die VolksschullehrerInnen dies nicht einzuschätzen wissen, wer wofür geeignet ist. Aber angesichts der dürftigen Aussagekraft von Noten und den unbewussten Einflussfaktoren (so wird nachgewiesenermaßen massiv nach der sozialen Herkunft sortiert) scheint es doch recht anmaßend zu sein, hier schon ein Urteil fällen zu können. Inwieweit hierfür sogar ein Schlüssel vorhanden ist (Vorgabe nur eine bestimmte Anzahl von Schülern und Schülerinnen eine Gymnasialreife auszustellen), entzieht sich weitgehend meiner Kenntnis, erscheint mir aber nicht unwahrscheinlich.

Fazit: Die unterschiedlichen Voraussetzungen der einzelnen Lernenden werden auch in Innsbruck als unerwünschte Störung des Systems, als Ärgernis, denn als Erkenntnis, dass wir alle einzigartige Wesen sind und niemand perfekt ist, empfunden. Befeuert und unterstützt wird dies zudem von einem Teil der am Bildungsprozess Beteiligten mit elitären Ansichten und vor allem von einem nicht unbeträchtlichen Anteil von Erziehungsberechtigten, die sich gerne im Kreise ihresgleichen sehen, und zwar sowohl in bildungsnahen als auch bildungsferneren Schichten. Zudem kommt noch die Angst bildungsnaher Schichten hinzu, dass es bei heterogenen Gruppen zu einer Nivellierung nach unten kommt, ihre Kinder also nicht so gefördert werden, wie es sich die Eltern wünschen, und unausgesprochen, manches Mal auch klar und deutlich artikuliert, dass ihre Kinder mit Kindern mit Migrationshintergrund oder Verhaltensauffälligkeiten zusammen in eine Klasse gehen müssen. Der Angst der Nivellierung, die zwar unbegründet ist (Anmerkung: Forschungsberichte, wie z.B. der des Instituts für Bildungsforschung der Wirtschaft zeigen auf, dass es zu keiner Nivellierung nach unten kommt), gilt es natürlich entgegenzutreten und auch ernst zu nehmen. Es gilt eine win-win-Situation zu schaffen, indem man mithilfe der Begabtenförderung, Interessensschwerpunktsetzungen, Neigungsgruppen… auch jene zusätzlich fördert, die sich leicht in ihrer schulischen Entwicklung tun. Hierbei sei aber auch erwähnt, dass sich dieser Angst jahrzehntelang bereits konservative Kräfte erfolgreich bedienen, um eine Angst- und Panikmache gegenüber einer gemeinsamen Schule zu verbreiten und dies fällt leider auf fruchtbaren Boden bei Teilen der Eltern-Lehrer- und Direktorenschaft. Eine sachliche Diskussion wird somit auf eine emotionale Ebene verschoben, die einer konstruktiven Lösung im Wege steht und unsere Gesellschaft in verschiedene Lager spaltet. Auf der anderen Seite gibt es auch die Vorstellung, dass man den vermeintlich Schwächeren damit etwas Gutes tut, wenn man sie von den anderen trennt, weil man sie dadurch vor einer Überforderung schützt. Glaubt man jedoch wissenschaftlichen Abhandlungen, so ist dem nicht so, weil in homogenen Gruppen, bestehend aus vielen benachteiligten Kindern,  das Anregungspotential, der Kompetenzerwerb geringer und eine schul- und lerndistanzierte Haltung weit verbreiteter ist als in heterogenen Gruppen und das Arbeiten für LehrerInnen hiermit auch nicht leichter macht.

Kann man dem Prinzip der Homogenisierung entgegenwirken?

Dies zu durchbrechen ist, trotz zahlreicher innovativer, strukturverändernden Maßnahmen der letzten Jahre, wie Projekte, Schulversuche (auch in Innsbruck)… ein schwieriges Unterfangen. Die Akzeptanz von Heterogenität ist nämlich zu einem großen Teil davon abhängig, inwiefern sich im Kopf der Beteiligten etwas verändert und es uns gelingt die Ängste zu nehmen. Die in uns verankerten Bilder lassen sich nur schwer aufbrechen. Wir beurteilen das Schulsystem immer nachdem, wie wir es selbst erfahren haben und immer noch erfahren und können uns daher schwer vorstellen, dass man eine Gruppe unterschiedlicher Kinder ebenso gut unterrichten kann bzw. die Kinder sich in einer heterogenen Gruppe ebenso gut entwickeln können. Nur muss man den Unterricht, seine Einstellung, die Rahmenbedingungen ändern und das fällt unserem System, den handelnden Personen äußerst schwer. Dabei wäre das jetzt schon wichtig, denn ein bestimmtes Maß an Heterogenität hat ja derzeit schon in Innsbrucks Klassen Einzug gehalten und stellt uns ja jetzt schon vor die Frage, wie wir am besten damit umgehen sollen.

Was ist so schlimm an der Homogenisierung?

Schlimm ist, dass, auch bewusst, übersehen wird, dass von dieser Selektierung vor allem Kinder benachteiligt werden, die aus einfachen sozialen sowie ärmeren Verhältnissen oder bildungsfernen Schichten stammen, einen Migrationshintergrund, eine Behinderung oder eine partielle Lernschwäche wie z.B. Legasthenie oder Dyskalkulie haben, dem hohen Leistungsdruck nicht standhalten können oder von Prüfungsangst betroffen sind oder einen schweren Schicksalsschlag miterleben mussten. Nur die vermeintlich Starken dürfen Anteil nehmen am großen Kuchen der Möglichkeiten, die das Leben bietet. Benachteiligte dagegen werden ihrer Chancen beraubt.

Sind heterogene Klassen also besser?

Ja!!! Und das ist schon seit Jahrzehnten bewiesen und in einigen Schulen, unter anderem auch in Innsbruck, zu erfahren. Dem Gedankengebäude der Homogenität stehen außerdem zahlreiche Studien (siehe z.B. LAU-Studie, PISA-Studie…), wissenschaftliche Abhandlungen, Texte zahlreicher Pädagogen und Pädagoginnen, ErziehungswissenschaftlerInnen, Neurobiologen, LehrerInnen… bzw. die Erfahrungen zahlreiche Schulen  entgegen, die zu ganz anderen Schlüssen kommen. Es scheitert lediglich am Willen, am Einfluss jener, die Angst vor Veränderungen haben und an jenen, die sich im derzeitigen System arrangiert haben bzw. von diesem System profitieren.

Gibt es nicht ohnehin eine Vielfalt in der Innsbrucker Schullandschaft?

Die vorgebrachte Vielfalt, häufig von konservativen Kreisen vorgebracht, ist eigentlich keine Vielfalt im engeren Sinn, sondern ein vorgeschobenes Argument und eine Augenauswischerei. Schulen mit unterschiedlichen Schwerpunkten in einem Gebiet wie Innsbruck machen noch keine Heterogenität aus, sondern nur, wenn die Heterogenität in jeder Schule vorhanden ist. D.h. wenn in jeder Schule, in jeder Klasse ein gewisses Maß an Diversität zugelassen wird.

Der Innsbrucker Wald kann ja auch nicht als Mischwald bezeichnet werden, wenn die gesamte Nordkette mit Tannen und das Gebiet am Patscherkofel mit Fichten bewaldet ist. Ein Mischwald und damit ein gesunder Wald ist nur dann gegeben, wenn alle Wälder rund um Innsbruck eine Mischung unterschiedlicher Baumarten aufweist.

Wie müsste man den Unterricht gestalten?

Durch Methodenvielfalt, Binnendifferenzierung und individualisiertes Lernen. Weiters durch eine andere Einstellung der Lehrenden, vermehrte Diagnostik, differenzierte Unterrichtsmaterialien, kooperative Lernformen, zusätzliche Fördermaßnahmen, Ganztagesschulen, vorbereitete Räume, Kooperation und Zusammenarbeit eines multiprofessionalen Teams, selbstgesteuertes, entdeckendes und partizipatives Lernen sowie eines jahrgangs- und fächerübergreifenden Unterrichts. Dass dies von den Lehrkräften und vom System einiges abfordert, liegt natürlich auf der Hand. Dies umzustellen benötigt viele Jahre. Es lohnt sich aber und sollte endlich in Angriff genommen werden, auch für jene SchülerInnen, die in einem stabilen, fürsorglichen… Umfeld aufwachsen und keine schulischen Probleme haben, denn auch sie profitieren davon, und zwar mehr als im bisherigen System.

Wie viel Diversität verträgt eine Klasse/eine Schule?

Schwer zu sagen! Hängt vor allem davon ab, welche Rahmenbedingungen (z.B. behindertengerechte Ausstattung…) an der Schule vorherrschen und inwiefern die Lehrerschaft und Direktion bereits auf ihrem Weg sind (z.B. wie sehr sie sich z.B. mit dem Thema „Diversität“ auseinandergesetzt haben). Da es aber ja besser ist, in kleinen Schritten eine Veränderung herbeizuführen, damit so etwas auch gelingen kann, ist primär nicht das Tempo das entscheidende Kriterium. Entscheidend ist jedoch, dass endlich damit auf allen Ebenen begonnen wird!!! Und dazu fordere ich alle an Bildung Beteiligten im Namen aller Kinder Innsbrucks auf!!!

(Heterogenität wird in diesem Text als kultureller, sozialer, monetärer, geschlechtsspezifischer, leistungsmäßiger, emotionaler, motivationaler, affektiver, kognitiver und körperlicher Unterschied verwendet. Wenn also von heterogenen Klassen gesprochen wird, so sind Klassen gemeint, in denen ein gewisser Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund sowie aus bildungsfernen Schichten, armutsgefährdete Kinder, Mädchen und Buben, Kinder mit Lernschwächen, Kinder mit Behinderungen, problematischem Lernverhalten, Schicksalsschlägen… zusammen mit weniger belasteten Kindern zusammen lernen.)

Weiterführende Literatur:

Miriam Vock und Anna Gronostaj: „Umgang mit Heterogenität in Schule und Unterricht“;  Herausgeber : UTB GmbH; 1. Edition (3. April 2017)

Frank Müller: Praxisbuch Differenzierung und Heterogenität: Methoden und Materialien für den gemeinsamen Unterricht (Deutsch); Herausgeber: Beltz (15. August 2018)

Martin Fromm: Diversität in der Schule. Herausforderungen für Erziehung und Bildung in der Sekundarstufe. Herausgeber : UTB (18. Februar 2019)

Otto Hörmann: Heterogenität als Lernressource – jahrgangsgemischtes Lernen als Chance und Herausforderung. Zu finden unter: https://www.kphvie.ac.at/fileadmin/Dateien_KPH/Forschung_Entwicklung/KPZ-Elementar-Grundschul/Heterogenitaet_als_Lernressourche.pdf

Beate Wischer: Umgang mit Heterogenität im Unterricht – Das Handlungsfeld und seine Herausforderungen. Zu finden unter: https://bsi.tsn.at/sites/bsi.tsn.at/files/dateien/lz/Umgang%20mit%20Heterogenitaet.pdf

Heterogenität als Herausforderung für Schule und Unterricht. Was „individuelle Förderung“ in der Unterrichtspraxis bedeutet und wie sich Schulen – trotz schwieriger Rahmenbedingungen – auf den Weg machen können. Erschienen in der Zeitschrift „PodiumSchule“ der Bertelsmann Stiftung. Zu finden unter: https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/BSt/Publikationen/GrauePublikationen/Podium_Schule_1_11_Indiv_Foerderung.pdf

Prof. Dr. Klaus-Jürgen Tillmann: Kann man in heterogenen Lerngruppen alle Schülerinnen und Schüler fördern. Vortrag auf dem Symposium des VdS auf der DIDACTA am 1.3.2007 in Köln. Zu finden unter: https://bildungsserver.berlin-brandenburg.de/fileadmin/bbb/schule/lehren_und_lernen/schulanfang/tillmann07heterogenitaet_selektion_auch_GSOR071230__1_.pdf

Matthias Trautmann, Beate Wischer: Heterogenität in der Schule. Eine kritische Einführung. Verlag für Sozialwissenschaften, 2011

Erfolgsfaktoren für eine „gemeinsame Schule“. Strukturvergleich und Analysen anhand ausgewählter Länder. Von Kurt Schmid. Institut für Bildungsforschung der Wirtschaft. Forschungsbericht Nr. 178, Wien 2014. ZU finden unter: file:///C:/Users/MARKUS~1/AppData/Local/Temp/ibw-forschungsbericht-178.pdf

Schratz: Schulentwicklung Corona-positiv. Innovationsschub für das Bildungssystem?

Von Univ.-Prof. i.R. Dr. Michael Schratz

Geschrieben für das „Deutsche Schulportal“ ( https://deutsches-schulportal.de/expertenstimmen/michael-schratz-schulen-corona-positiv-innovationsschub-fuer-das-bildungssystem/) und für unsere Plattform dankenswerterweise von Univ.-Prof. i.R. Dr. Michael Schratz zur Verfügung gestellt.

Die Corona-Pandemie hat den Schulalltag verändert. Seit Monaten kann der Unterricht nicht mehr so stattfinden, wie wir es über Jahrzehnte gewohnt waren. Der Bildungsforscher, Erziehungswissenschaftler, Schulpädagoge,  Gründungsdekan der School of Education an der Universität Innsbruck Michael Schratz, der auch Sprecher der Jury des Deutschen Schulpreises ist, lenkt den Blick aber weg von den Einschränkungen hin zum Innovationsschub, den viele Schulen durch die neue Situation erlebt haben. In seinem Gastbeitrag für unsere Plattformnennt er fünf Schlüsselbereiche, in denen Schulen sich schon auf den Weg gemacht haben und sich weiterentwickeln sollten.

Der Raum als „dritter Pädagoge“

 Laut Schratz sei der virtuelle Raum zum „dritten Pädagogen“ zwischen Lehrenden und Lernenden geworden. Nicht die räumliche Nähe bestimmte den Unterrichtserfolg, sondern die lernseitige Haltung: Manche Kinder und Jugendliche berichteten, sich im virtuellen Raum mehr eingebracht oder mehr persönlichen Kontakt zur Lehrperson gehabt zu haben als im Klassenzimmer. Pandemiebedingt erfolgte ein neues Nähe-Distanz-Bewusstsein, die stärkere Einbeziehung des Lebensraums und die Öffnung des Schulraums zum Umfeld, zum Beispiel in der „Draußenschule“.

Die Zukunftsfrage: Welche Möglichkeitsräume (er)finden wir, die auf Kreativität abzielen und die Lebenswelt einbeziehen, um alle Schülerinnen und Schüler zu erreichen, ohne dass sie ihren Unterricht im Klassenraum absitzen müssen?

Zeit schafft Struktur

Die Einteilung der Zeit taktet den Schulalltag und bestimmt über Freiheit und Kontrolle. Je mehr Kinder und Jugendliche bereits im regulären Unterricht Verantwortung für ihre eigene Lernzeit übernehmen konnten, umso leichter taten sie sich. Zeitmanagement, Selbstverantwortung und die zeitliche Organisation im Alltag erfordern entsprechendes Training.

Die Zukunftsfrage: Welche zeitliche Organisation von Lerngelegenheiten sehen wir vor, um die Nutzung von „Qualitätszeit“ in die Eigenverantwortung der Betroffenen zu geben und deren Fähigkeit zur Strukturierung des Alltags zu stärken?

Beziehung braucht einander

Der Verlust an Nähe hat trotz oder gerade wegen der Distanz die Bedeutung der Beziehung erst richtig spürbar gemacht. Das Ausbleiben von Feedback oder gar das „Verlieren“ einzelner Kinder hat deutlich gemacht, dass Unterricht ein responsives Geschehen ist. Ebenso das Miteinander im Kollegium, was sich in der Aussage offenbart: „Ohne Psychologen und Sozialarbeiter wären wir schlichtweg aufgeschmissen!“

Die Zukunftsfrage: Wie gestalten wir Beziehungen zwischen Lehrenden und Lernenden, Elternhaus und Schule sowie innerhalb des Kollegiums, um den Bildungserfolg jedes einzelnen Kindes und Jugendlichen sicherzustellen?

Schule im Zeitalter der Digitalität

Der Digitalisierungsschub an Schulen war dem „Notunterricht“ geschuldet. Er machte diesbezügliche Schwachstellen im System sichtbar, insbesondere auch im Hinblick auf Chancengerechtigkeit. Mehr denn je stellen sich Fragen, wie junge Menschen im Zeitalter der Digitalität und der damit verbundenen gesellschaftlichen Transformation (über)leben lernen.

Die Zukunftsfrage: Wie nutzen wir den Digitalisierungsschub, um die künftigen Generationen auf die veränderten globalen Herausforderungen zur Selbstbestimmung und -verantwortung vorzubereiten?

Well-being als gesellschaftliche Perspektive

Die Schulschließung offenbarte, was Kinder an Schule haben: Die fehlende Sicherheit hat vielerorts das Leben destabilisiert und zu psychosozialen Herausforderungen geführt. Je stärker Kinder in der Schule Resilienz entwickeln können, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie im Leben ungewohnten Herausforderungen und unklaren Situationen mit Selbstwirksamkeit und Zuversicht begegnen.

Die Zukunftsfrage: Welche Maßnahmen setzen wir, damit Kinder und Jugendliche zu gereiften Persönlichkeiten werden, die im gesellschaftlichen Miteinander ein erfülltes Leben führen können und die erforderliche Resilienz erwerben, um an Herausforderungen zu wachsen?

Schulen brauchen Freiraum, um Innovationsschub zu nutzen

Aus den disruptiven Erfahrungen stellen sich abschließend die zentralen Fragen:

Passen unsere fest eingewurzelten Vorstellungen von Unterricht und von dessen Ergebnissen noch in unsere Zeit und zu unserer Schülerschaft?Wollen wir zurück zu der mancherorts wieder ersehnten „Normalität“ aus der Zeit, wie wir sie vor den Schulschließungen erlebt hatten?

Wenn wir die Jahrhundertchance und den damit verbundenen Innovationsschub nutzen wollen, bedarf es der Offenheit, mutig aus bisherigen Gewohnheiten auszubrechen und im Kollegium den Umgang mit Raum, Zeit, Beziehung, Digitalität und Well-being neu zu bestimmen. Dazu benötigen Schulen jenen Freiraum, der das Kollegium rasch und flexibel handeln lässt, wie es während der Schulschließung erforderlich war. Gelingt der Abbau von Regelungsdichte und überbordender Bürokratie zugunsten von mehr Eigenverantwortung am Einzelstandort nicht, kommt es wohl zur Schubumkehr zurück in die „alte Normalität“.

Burow: Die Corona-Chance. Aufbruch zur „Resilienten Schule“

Von Prof. Dr. Olaf-Axel Burow

Erschienen in der Zeitschrift: „Pädagogische Führung“ 6 (2020) und für unsere Plattform dankenswerterweise von Prof. Dr. Olaf-Axel Burow zur Verfügung gestellt.

Die Corona-Krise rückt die seit langem anstehenden Frage nach einer zukunftsfähigen Schule ins Zentrum, hat sich doch ein unhaltbarer Zustand offenbart: Wie kann es sein, dass das jederzeit mögliche Auftreten eines Virus die Funktionsfähigkeit vieler Schulen so massiv beeinträchtigt hat, das Unterricht zeitweise kaum noch möglich war und Lehrer, Schüler und Eltern überfordert wurden?

Offenbar sind unser Bildungssystem insgesamt und die Schule im Besonderen so konstruiert, dass sie nur unter Schön-Wetter-Bedingungen funktionieren und dies – bwohl längst alternative Lehr-/Lernkonzepte und technische Unterstützungssysteme entwickelt sind, die einen Unterrichtsbetrieb auch unter Pandemiebedingungen problemlos ermöglichen. Dass dies keine Theorie ist, zeigen einige innovative Schulen, die weniger Probleme mit der Krisenbewältigung haben, weil sie sich rechtzeitig auf die schon unabhängig von Corona geforderten Anforderungen für selbstgesteuertes und digital unterstütztes Lehren und Lernen eingestellt haben.

Hier drängt sich die Frage auf: Wie kann es sein, dass gut ausgestattete Kultusverwaltungen weitgehend unvorbereitet auf die Krise reagierten, während einige Schulen in der Lage sind, zu zeigen, wie Krisenbewältigung gelingen kann. Mehr noch: Dass einige Schulen sogar in der Lage sind, Anregungen dafür zu geben, wie eine zukunftsfähige, krisensichere Schule gestaltet werden kann. Im Kontrast zu dieser proaktiven Haltung der Praktiker vor Ort steht die rückwärtsgewandte Haltung zu vieler Schulverwaltungen. Statt die Krise für eine Fortbildungsoffensive, eine Organisationsreform und eine längst anstehende Modernisierung der Schule zu nutzen, erlebten wir kurzfristige Maßnahmen der Krisenbewältigung, die meist von der Illusion getragen wurden, es wäre eine Rückkehr zum „normalen“ Schulbetrieb möglich.

Doch schon vor Corona war klar, was der neue Bildungsbericht (www.bildungsbericht.de) faktengesättigt bloßlegt: Schule hat einen massiven Modernisierungsbedarf. In schnell sich wandelnden Zeiten, angesichts der Herausforderungen von Globalisierung und Digitalisierung, des Gegensatzes von arm und reich, von Klimawandel und Pandemie wandeln sich die Anforderungen an Bildungseinrichtungen. Spätestens jetzt ist sichtbar geworden, dass wir alle in einer „Weltrisikogesellschaft“ leben und wir uns auf vielfältige Bedrohungen, aber auch unvorhersehbaren Wandel einstellen müssen. Anstatt sich auf die Vermittlung von Inhalten und Lösungen der Vergangenheit zu konzentrieren, sollten Schulleitungen und Lehrkräfte die Krise deshalb nutzen, um innovative Wege zu entwickeln wie sie die „21st century skills“, die zentralen Zukunftskompetenzen vermitteln können, nämlich: Kritisches Denken und Problemlösen, Kommunikation und Kollaboration, Kreativität und Innovation sowie Umgang mit Unsicherheit.

Statt kurzfristiger Krisenbewältigung gilt es die Zeit zu nutzen, durch neue Organisations-, Lehr-und Lernformate Schule krisenfest und zukunftssicher zu machen. Die Schlüsselfrage lautet: Wie könnten wir die krisensichere Schule der Zukunft schaffen? Eine mögliche Antwort liefern Konzepte der „Resilienz… (verstanden als psychische Widerstandsfähigkeit ist die Fähigkeit, Krisen zu bewältigen und sie durch Rückgriff auf persönliche und sozial vermittelte Ressourcen als Anlass für Entwicklungen zu nutzen). So hat, um ein Beispiel zu geben, die Forschung gezeigt, dass Kinder selbst, wenn sie unter schwierigsten Bedingungen aufwachsen eine psychische Widerstandsfähigkeit ausbilden können. Voraussetzung dafür sind resilienzförderliche Faktoren, wie z.B. eine Person, die das Kind stützt. Die Katastrophensoziologie erweitert den Begriff über die Betrachtung der Resilienzfähigkeit der einzelnen Person hinaus, indem sie Resilienz als robuste Widerstandskraft ganzer Gesellschaften versteht, die von einer resilienzförderlichen Umgebungsgestaltung sowohl in sozialer wie auch baulicher Hinsicht abhängt. Auch in der Ökologie wird der Begriff verwendet und bezeichnet die Fähigkeit von Ökosystemen sich nach Katastrophen zu regenerieren. Im Gesellschaftsdiskurs schließlich hat sich „Resilienz“ vor allem als Gegen-bzw. Komplementärbegriff zur „Vulnerabilität“ (Verwundbarkeit) etabliert. „Im Vordergrund steht dabei die Frage nach der Widerstands-und Regenerationsfähigkeit von Gesellschaften angesichts komplexer und zunehmend unvorhersehbarer, auch von Menschen verursachter Risiken. Dabei wird davon ausgegangen, dass Gesellschaften solche Risiken nicht nur bewältigen, sondern auch aus ihnen lernen, sich an zukünftige Herausforderungen anpassen und sich so transformieren können.“ Seit Ende der neunziger Jahre wird der Resilienzbegriff schließlich auch auf Unternehmens- bzw. Organisationskonzepte angewandt. Die Frage ist hier, welche Kriterien eine Organisation erfüllen muss, um so robust zu sein, dass sie unvorhersagbare Krisensituationen – beginnend bei Technologiesprüngen über Wirtschaftskrisen bis hin zu Marktentwicklungen und ähnlichem – bewältigen kann. Als zentrale Krisenbewältigungsfaktoren haben sich dabei die Entwicklung einer Fehlerkultur und die Verringerung von Komplexität erwiesen…

Einige LeserInnen werden sich jetzt vielleicht fragen, was diese Konzepte für ihren schulischen Alltag bedeuten und inwiefern Resilienzkonzepte hilfreich für die Entwicklung krisensicherer Schulen sein können. Wie ich nachfolgend zeigen werde, bin ich in der Tat der Auffassung, dass eine Kombination der verschiedenen Verwendungsweise des Begriffs und der dahinterstehenden Konzepte wichtige, Hinweise für die Gestaltung „resilienter“ Schulen liefern kann. Was also charakterisiert eine weitgehend krisensichere, resiliente Schule?

Wenn in unübersichtlichen Lagen schnelles Handeln gefordert ist, dann kommt es darauf an, die Komplexität soweit zu verringern, so dass alle Beteiligten handlungsfähig werden. Hier ist „Simplexity“ gefordert, die Handhabbarmachung von Komplexität durch die Fokussierung auf die wichtigsten Kernelemente. Simplexity erreicht man durch gemeinsam entwickelte Kernwerte, die dem Handeln in komplexen Situationen klare Orientierungen geben… und die durch einfache Elemente konkretisiert werden…, wie z.B.:

1. Alle Schüler sind systematisch in Formaten selbstgesteuerten Lernens trainiert

2. Jeder Schüler verfügt über ein digitales Endgerät, dessen Bedienung er/sie beherrscht

3. Der gesamte Unterrichtsstoff ist in digitalisierter Form verfügbar und jederzeit leicht abrufbar

4. Eine digitale Lernplattform unterstützt das Lernen mit schülergerechten Formaten wie z.B. Erklärvideos, ausgewählten Apps etc.

5. Die LehrerInnen sind im analogen und digitalen Coaching (z.B. via Zoom) ausgebildet.

Häufig wird in traditionell aufgestellten Kollegien noch immer ein ideologischer Grabenkampf um den scheinbaren Gegensatz „analog versus digital“ ausgefochten. Doch wie die Erfahrungen innovativer Schulen bei der Bewältigung der Krise gezeigt haben, beruht diese Frontstellung auf falschen Vorstellungen, denn analog und digital – vorausgesetzt ein entsprechendes pädagogisch-didaktisches Konzept sowie technische Unterstützungssysteme sind vorhanden – können einander optimal ergänzen. Ähnlich wie bei Flugzeugen, bei denen die wichtigsten Systeme in doppelter Ausfertigung vorhanden sein müssen, brauchen krisensichere Schulen, doppelte „Systemausstattungen“, die es im Krisenfall ermöglichen, einen Ausfall von Teilbereichen zu kompensieren. So können – falls wie in der Corona-Krise –der Präsenzunterricht nicht oder nur eingeschränkt möglich ist, digitale Medien ein Unterrichten weiter ermöglichen und zum Teil sogar, in optimierter, personalisierter Form. Längst bieten frei zugängliche und kostenfrei zu nutzende Lernplattformen wie z.B. die Khan-Academy bereits heute nicht nur den gesamten Mathestoff in ca. 4000 Erklärvideos, sondern auch differenzierte Unterrichtshilfen für fast alle Fächer. Sebastian Nüsse, um eine weitere Anregung zu geben (www.mediencoaching.nrw.), hat 60 „Toolkits“ für gelungenen digitalen Unterricht zusammengestellt. Natürlich kann digitales Unterrichten nicht den persönlichen Kontakt vor Ort ersetzen, aber kreative Lehrer können z.B. via Zoom auch einen intensiven persönlichen Kontakt mit ihren Schüler/innen aufrechterhalten…

Die Erfahrungen der Corona-Krise können also produktiv genutzt werden, wenn wir sie als Weckruf verstehen, gemeinsam mit Lehrern, Schülern, Eltern, aber auch dem Schulträger und der Schulverwaltung Konzepte resilienter Schulentwicklung umzusetzen. Hierzu sollten Sie das gesamte traditionelle Schulkonzept auf den Prüfstand stellen, beginnend bei der Organisations-und Zeitstruktur über Unterrichtsformate bis hin zu technischen und baulichen Adaptierungen…

Siehe auch: Burow O.A. (2021): Die Corona-Chance: Durch sieben Schritte zur resilienten Schule. (erscheint im März 2021).