Archiv der Kategorie: Buch des Monats

Ich bin für dich da. Über die Gestaltung pädagogischer Beziehung. Von Nadine Ulsess-Schurda und Cathrin Reisenauer

Zu Weihnachten bekam ich ein Buch geschenkt, das mir große Freude bereitet hat und immer noch bereitet und immer bereiten wird. Es ist zum alltäglichen Begleiter meiner Berufung geworden. Zu meinem Kompass, wenn ich die Schule betrete, ins Konferenzzimmer eintrete, in die Klassen gehe, wenn ich mit Schülern und Schülerinnen in Beziehung trete und, und, und… Und auch in meinem sonstigen Alltag, im Bus, beim Einkaufen, beim Zeit verbringen mit meinen Liebsten, bei der Begleitung meiner Tochter… 

Es heißt: Ich bin für dich da. Über die Gestaltung pädagogischer Beziehung. (Erschienen im hep Verlag, 2019)

Und es wurde von der von mir überaus geschätzten Kollegin Nadine Ulseß-Schurda und der nicht minder geschätzten Erziehungswissenschaftlerin Cathrin Reisenauer geschrieben. 

Dass das Buch auch von beiden gelebt wird, weiß ich aus Erfahrung. So durfte ich z.B. ein ganzes Jahr lang immer wieder bei Nadine hospitieren, als ich mich entschloss zur Hälfte meiner Lehrerlaufbahn ein paar Stunden weniger zu unterrichten und mir in diesen Stunden den Unterricht bei Kollegen und Kolleginnen anzusehen und mit ihnen darüber ins Gespräch zu kommen. 

Ich weiß, dass Nadine das nicht gerne lesen möchte, aber sie hat mir viele Augen geöffnet, vor allem in der professionellen Beziehungsarbeit mit Schülern und Schülerinnen. 

Über den Inhalt des Buches möchte ich in dieser Buchempfehlung nichts vorwegnehmen: Ich kann es nur allen wärmstens empfehlen. Es war für mich voller AHA-Effekte, hat mich schonungslos mit meiner Unfähigkeit, meinem Unvermögen bei manchen Kindern eine entwicklungsförderliche Beziehungen herzustellen konfrontiert, meinen Blick auf das Wesentliche (ich nehme dich wahr, ich begegne dir, ich trete dir gegenüber, ich spreche dich an, ich gebe dir Rückmeldung, ich versage dir, ich bin für dich da) gelenkt und ist jeden Tag in mir präsent, auf meinem persönlichen Weg zu einem besseren Verständnis, wie man eine gute Beziehung zu den Menschen pflegen kann und auf meinem persönlichen Weg zu einem wichtigen Gegenüber der mir anvertrauten Kinder zu werden. 

Ich lerne noch und übe mich darin. Danke Nadine. Danke Cathrin. 

„Kulturkampf im Klassenzimmer“ und „Machtkampf im Ministerium“ von Susanne Wiesinger, erschienen 2018 bzw. 2020 in ‎ der Edition QVV.

Wenn man sich mit dem System anlegt

Dieses Mal gleich zwei Bücher. Warum? Ich glaube, man muss beide lesen, um die Zusammenhänge zu verstehen. Beide handeln laut Titel von einem Kampf: Das eine unter anderem vom Kampf in den „Schulen mit besonderen Herausforderungen“, in die vor allem jene abgeschoben werden, die eine bestimmte Wählerschicht nicht gerne in ihren Kinders Klassenzimmer sehen möchten, das andere von den Machtkämpfen unterschiedlicher Ideologien im Bildungsbereich, die dazu führen, dass nichts weitergeht. Die Leidtragenden im Kampf: Die benachteiligten Kinder und ihre LehrerInnen, eigentlich aber unsere Gesamtgesellschaft und unser Staat.

Viele von euch werden diese Bücher kennen. Vielleicht nicht gelesen, aber sie haben für jede Menge Staub in der Medien- und Bildungslandschaft aufgewirbelt. Über den Inhalt kann man streiten, auch über die Vorgehensweise der Autorin. Ich, jedenfalls, kann dem Geschriebenen viel abgewinnen und einiges nachvollziehen.

Ebenso irritierend, beklemmend, nachdenklich stimmend oder… sind für mich aber auch die die Reaktionen um das Buch und die Folgen für die Autorin. Vielleicht absehbar, wenn man sich nicht nur mit der Obrigkeit, sondern mit allen anlegt, sogar wahrscheinlich mit sich selbst. Hierfür lege ich all jenen, die sich mehr dafür interessieren, einen Artikel des Addendum-Teams und einen Artikel des Bildungsaktivisten Daniel Landau ans Herz. Man findet sie unter:

https://www.addendum.org/schule/susanne-wiesinger-zwangsversetzung/

https://kontrast.at/schule-landau-susanne-wiesinger/

Ich widme diese Bücher all jenen, die so wie Susanne Wiesinger den Mut hatten und haben Unangenehmes anzusprechen, gegen den Mainstream zu denken, sich auf der Wahrheitsfindung einem hohen Risiko auszusetzen haben, in die Isolation getrieben wurden, sich eine gewisse Vereinsamung selbst auferlegt haben und letztendlich feststellen mussten, dass eigentlich Niemand ihnen einen Schutz bieten kann und daher mitunter ein hoher Preis zu zahlen ist.

Ich denke häufig an sie, auch wenn ich sie persönlich nicht kennen lernen durfte und mit ihr (leider) nicht in Verbindung stehe. Vielleicht hat jemand einen Draht zu ihr und kann ihr mitteilen, dass sie für mich einen wertvollen Beitrag geleistet hat, indem sie uns hinter die Kulissen hat blicken lassen, zum Nachdenken und Diskutieren angeregt hat und sehr mutig war. Ihre Bücher mögen nicht in Vergessenheit geraten, denn es ist fast alles noch, wie es war, und ihr wünsche ich alles nur erdenklich Gute.

„Dummheit“ von Adelheid Kastner“

Und was hat nun dieses Buch mit dem Thema „Schule“ zu tun?

Das, was derzeit rund um uns herum geschieht, seit der Coronavirus in unseren Alltag getreten ist, lässt sich, meiner Meinung nach, auch recht gut auf die Bildungsdiskussion umlegen. Und: Adelheid Kastners Buch „Dummheit“, gerade vor Kurzem im Verlag K&S erschienen, ist diesbezüglich äußerst hilfreich, man braucht einige ihrer Sätze nur umlegen und erkennt, dass es sich auch bei der Bildungsdebatte um ein grundsätzliches Problem der Menschheit handelt: Wir sprechen, denken und handeln nicht wissenschaftlich orientiert, sondern eigentlich dumm.  Dabei sind auch in der Bildungsdebatte allerhand Spielarten der Dummheit vertreten und alle reden mit, da ja jeder seine Erfahrungen mit Schule gemacht hat und daher Experte/Expertin dieser ist.

Ein Beispiel der Übertragung des Buches auf die Bildungsdiskussion gefällig: Einen Dialog mit jenen zu führen, die aus ideologischen Gründen nie und nimmer für eine „gemeinsame Schule“ sein werden, ist, und da gehe ich mit Adelheit Kastner konform, reine Zeitverschwendung. Warum? Weil sie jene Argumente und Beweise, die dafür sprechen, einfach aus Unwissenheit, Faktenverweigerung, Ignoranz (eben Dummheit, wie Adelheit Kastner in ihrem Buch diese definiert) in Abrede stellen, verunglimpfen, mit Scheinargumenten nichtig machen möchten und nicht bereit sind, einen offenen, ehrlichen Diskurs darüber zu führen.

Und es gibt auch noch jene, die sich dieser Dummheit durch Angstmacherei, Fake-News, abstruse Ideen… bewusst bedienen, um an der Macht zu bleiben oder Macht zu erlangen.

Dass eine gemeinsame Schule funktionieren kann, dass sie erfolgreich ist, dass alle SchülerInnen und LehrerInnen davon profitieren, unserer Gesellschaft besser tun würden, zukunftsorientierter sind und, und, und… beweisen viele Schulen und Studien auf dieser Welt. Man muss nur seine Trägheit überwinden, sich also damit auseinandersetzten, sich von den Angstmachern verabschieden und sich an den Fakten orientieren.

Und das Buch?

Amüsant und heilend zu lesen, weil es uns mit der eigenen Dummheit und der von anderen konfrontiert und manches in einem anderen Licht erscheinen lässt.

Und der Menschheit im Allgemeinen bzw. den Bildung Vermittelnden im Speziellen  empfehle ich dieses Buch, weil es, für mich zumindest, auch eine überaus wichtige Botschaft enthält:  Schaut weniger auf die vermeintlich messbare Intelligenz und mehr auf die sozialen, gefühlsmäßigen… Kompetenzen. Die Ereignisse der letzten Jahre haben doch gezeigt, was geschehen kann, wenn (dumme) Menschen an die Macht kommen und die Welt bzw. unseren Staat lenken.

„35 Kilo Hoffnung“ von Anna Gavalda

In diesem Jugendroman kritisiert Anna Gavalda das autoritäre französische Schulsystem: Den Schülern wird der Stoff eingetrichtert, ohne auf individuelle Begabungen Rücksicht zu nehmen. Gavalda plädiert für motivierte, interessierte und gerechte Lehrer, deren Aufgabe darin liegen sollte, den Schülern Freude am Lernen zu vermitteln.

David Dubosc, dem Protagonistes dieses Buches, ergeht es, wie es nicht so wenigen Schülerinnen und Schülern in Innsbruck, in Tirol, in Österreich ergeht. Die Schule interessiert David überhaupt nicht, viel lieber ist er, seit er ein kleines Kind ist, bei seinem Großvater Léon im Schuppen, bastelt und baut mit ihm an allerlei Dingen, entwickelt praktische Erfindungen wie eine Bananenschälmaschine oder eine Apparatur, die seiner Mutter das Bügeln im Sitzen ermöglicht. Der Umgang in der Schule, in die er geht, ist alles andere als lernförderlich: Die LehrerInnen kümmern sich wenig um das Schicksal ihrer Schützlinge, seine Klassenkameraden rauchen nach der Schule vor dem Einkaufszentrum ihre Joints. Schließlich beschließen Davids Eltern, ihn auf ein Internat zu schicken und Großvater Léon gesteht David, dass er es war, der seine Eltern auf diese Idee gebracht hat: David soll einmal etwas anderes sehen, er selbst sein können, glücklich werden.

Das wünsche ich auch allen Schülerinnen und Schülern in Innsbruck, Tirol und Österreich und natürlich in aller Welt.

„Lotte träumst du schon wieder“ von Stefanie Rietzler und Fabian Grolimund

In der Literatur ist das Bild des Lehrers/der Lehrerin vorwiegend negativ besetzt (siehe: Hans Ulrich Grunder „Der Kerl ist verrückt!“) und speist sich wohl auch auf eigene Erfahrungen, die die Autorinnen und Autoren im Laufe ihres Lebens mit der Institution Schule und ihrer Lehrerschaft gemacht haben. Eine reine Lesereise durch diese Literatur ist eine schwere Kost und könnte einem dazu veranlassen, diesen Berufsstand zu meiden, vielleicht sogar einen Hass gegenüber dieser Berufsgruppe zu entwickeln, dem beliebten LehrerInnenbashing zu folgen…  

Was dennoch trotz schwerer Kost eine Auseinandersetzung mit Büchern wie „Der Club der toten Dichter“, „Professor Unrat“, „Verwirrungen des Zögling Törless“, „Der Schüler Gerber“… bzw. neuere Bücher darüber, wie z.B. „Schulgeschichten vom Franz“ oder „Lotte, träumst du schon wieder“ (Bücher für Kinder und Erwachsene) und, und, und… durchaus empfehlenswert machen, ist, dass sie aufzeigen und einen inspirieren können, wie man es eigentlich nicht machen sollte und wie Schule eigentlich nicht sein sollte. 

Auch ich habe im Laufe meiner 47-jährigen Begegnung mit Schule, selbst als Schüler, als Nachhilfelehrer, als Begleiter und Zuhörer in der außerschulischen Betreuung, als Lehrer, als Vater, als Gewerkschafter, als Personalvertreter… dutzende Erfahrungen mit mir selbst und auch mit Kolleginnen und Kollegen und Schulen gemacht, über die auch ich Roman schreiben könnte (wenn ich es könnte), wie man es eigentlich nicht machen sollte.

Aber, und das ist auch Tatsache und darüber könnte man auch schreiben, ich bin auch vielen Lehrerinnen und Lehrern begegnet, die die wissenschaftlichen Abhandlungen, wie eine „gute“ Lehrkraft sein sollte, im hohen Maße erfüllt haben und immer noch erfüllen und denen nicht nur ich in meiner Entwicklung dankbar bin, sondern auch im Namen aller Kinder, die das Glück hatten und haben, von solchen begleitet zu werden.  

Von ihnen habe ich gelernt, ihnen zugesehen, mit ihnen gesprochen… und mache das immer noch… in der Hoffnung, den Kindern und Jugendlichen einmal ein wirklich guter Lehrer zu sein… 

Als Buchempfehlung möchte ich euch folgendes Buch ans Herz legen. Es ist ein Kinderbuch, aber auch für Erwachsene, welches ich eigentlich zum Vorlesen für meine Tochter gekauft habe, als man mir nach nur drei Monaten ihres Volksschulanfangs mitteilte, sie sei zu langsam. Es wurde von Stefanie Rietzler und Fabian Grolimund geschrieben, ist 2020 erschienen und hat den Titel „Lotte, träumst du schon wieder“. Ich möchte es allen Lehrern und Lehrerinnen widmen, die die unterschiedlicher Reifung von Kindern als völlig normal ansehen und Verständnis und Geduld für jene Kinder aufbringen, die zum Schuleintritt noch nicht schulisch vorgefördert wurden, die noch kindlicher sind als andere, die sich noch in der mythischen Welt befinden, die noch träumen, die langsamer und vielleicht daher tiefgründiger sind, die sich nicht immer mit anderen messen wollen, die in den anderen keine Konkurrenz sehen, die mehr Zeit in manchem benötigen… 

euer 

Markus

PS: Und noch ein Tipp – Peter Giacomuzzi: schul arbeit. Zu finden unter: petergiacomuzzi.com

Können sie nicht oder Wollen sie nicht?

Geschrieben von Gertrud Nagy und erschienen 2019 im Verlag „Innsalz“

Diese Frage stellt sich die Bildungsexpertin Getrud Nagy in ihrem 2019 erschienenen Buch. Gemeint ist damit der hinlänglich beklagte Umstand, dass gerade marginalisierte Erziehungsberechtigte – meist mit Migrationshintergrund – weder die Zusammenarbeit mit der Schule suchen noch die Interessen ihrer Kinder vertreten und dies, obwohl gerade benachteiligte Kinder dies dringend bräuchten. Die ehemalige Hauptschullehrerin und Erziehungswissenschaftlerin kommt dabei zu einem überraschenden Schluss: Sie können nicht und daher wollen sie nicht!

Bei genauem Durchlesen ihres Buches ist die Antwort jedoch gar nicht so überraschend, sondern recht plausibel. Es sind zahlreiche Hindernisse, die dazu führen, dass sie nicht können und daher nicht wollen, sei es, dass sie sich schämen, der Sprache nicht mächtig sind, selbst schlecht Schulerfahrungen gemacht haben, Angst vor der Allmacht Schule haben oder sich zu blamieren und, und, und…

Und sie gibt auch Tipps, wie man die Teilnahme dieser Elternschaft fördern könnte.

Leider führt das Schweigen und die Nichtteilnahme an politischen Prozessen marginalisierter Eltern auch dazu, dass Veränderungen Richtung inklusivem Bildungssystem so schwer in Gang kommen, obwohl, so Nagy, vor allem ihre Kinder davon profitieren würden. Ihr Schweigen, ihre Nichtteilnahme schwächen nämlich auch die Bestrebungen jener, die sich für ihre Belange einsetzen.

Ein Muss für jeden, der sich fragt, warum marginalisierte Eltern (vermeintlich) so wenig Interesse für die Schulbildung ihrer Kinder haben, und wenig Verständnis dafür aufbringt und für jene, die diesen Eltern wohlwollend gegenüberstehen, aber nicht genau wissen, welche Möglichkeiten es zur Steigerung ihrer Teilhabe gibt.