Regisseurin Doris Kittler porträtiert in ihrem Film „1+1=100“ eine Mehrstufenklasse – Die Schüler entscheiden selbst, wie sie sich Themen erarbeiten wollen
Interview
Rosa Winkler-Hermaden. Erschienen in der Tageszeitung „Der Standard“ am 8. Mai 2012
Doris Kittler zeigt 25 Schüler zwischen sechs und zehn Jahren verschiedener Herkunft und mit unterschiedlichsten Bedürfnissen, die gemeinsam unterrichtet und doch individuell betreut werden.
„Die Menschen sind vom Schulsystem frustriert“, sagt die Wiener Regisseurin Doris Kittler. Mit ihrem Film „1+1=100 oder Die Schule des Lebens“ will sie zeigen, dass es auch anders geht. Kittler porträtiert eine Wiener Schule, in der Kinder selbst entscheiden, in welcher Geschwindigkeit sie Lesen und Rechnen lernen. „Die Schüler können sich ihre Zeit selber und frei einteilen und die Art und Weise, wie sie sich Themen erarbeiten wollen. Es gibt schon Ziele, bis wann die Kinder was können müssen, aber sie entscheiden selbst über ihr Tempo.“
In Kittlers Augen ist eine Mehrstufenklasse die Idealform von Schule. Über mehrere Jahre hat sie die Kinder mit der Kamera begleitet. Sie erhofft sich, dass das Schulmodell flächendeckend eingeführt wird. „Die Politiker oder die Gesellschaft brauchen keine Angst davor haben, dass Menschen heranwachsen, die zu kritisch sind“, sagt sie im Interview mit derStandard.at.
derStandard.at: Sie haben eine Mehrstufenklasse mit der Kamera begleitet und daraus einen Dokumentarfilm gemacht. Wie war das, als Sie die Kinder mit der Kamera konfrontiert haben?
Kittler: Ich habe diese Klasse an einem Tag der offenen Tür kennengelernt. Das Bild, das sich mir dargeboten hat, war in meiner Wahrnehmung sehr untypisch für eine Schulklasse. Normalerweise sitzen sie an ihren Tischen und schreiben irgendetwas von der Tafel ab. In dem Fall war es aber so, dass die Kinder seelenruhig am Boden ihre Arbeit gemacht haben. Sie haben sich Materialien zu einem bestimmten Thema zusammengesucht und damit gearbeitet.
Im ersten Moment sieht es wie Spielen aus. Wenn man genauer hinsieht, merkt man aber, es ist ein selbstständiges Erarbeiten von Dingen. Ein Kind ist zum Beispiel in einem großen Korb voller Kastanien gesessen und hat gelesen. Das hat mich emotional sehr berührt, und ich habe mir gedacht: Warum konnte ich nicht in so eine Schule gehen? Als ich dann anfing zu filmen, war ich praktisch wie eine von ihnen. Nach einer Weile nahm keiner mehr von mir Notiz. Dadurch konnte ich den Kindern sehr nahe kommen und alles direkt und authentisch auf die Leinwand bringen.
derStandard.at: Was unterscheidet die Mehrstufenklasse von anderen Schulklassen?
Kittler: Kinder zwischen fünf und zehn Jahren arbeiten gemeinsam in einer Klasse. Verschiedenaltrige lernen voneinander oder auch ein hochbegabtes von einem sogenannten behinderten Kind. Kulturelle und soziale Abstammung, Alter, Geschlecht oder Begabungen werden zwar ernst genommen, stehen aber hinter dem Prinzip der Gleichwertigkeit aller Kinder.
In der Früh entscheiden alle für sich, was sie tun wollen. Wo will ich weiterkommen? Die Schüler können sich ihre Zeit selbst und frei einteilen und die Art und Weise, wie sie sich Themen erarbeiten wollen. Es gibt schon Ziele, bis wann die Kinder was können müssen, aber sie entscheiden selbst über ihr Tempo.
Beim Lesenlernen gibt es naturgemäß unterschiedliche Geschwindigkeiten. Manche beherrschen es in der ersten Klasse, manche in der dritten. Jedes Kind hat seine eigene Geschwindigkeit. Es ist nicht wichtig, wann das Kind was lernt, sondern dass es etwas lernt. Im Vordergrund steht, dass es ohne jeden Notendruck besonderes Interesse am Lernen entwickelt. Die Motivation ist nicht etwa Angst vor der Lehrerin oder vor einer schlechten Note, sondern die eigene Lust am Lernen soll Motivation sein. Im Mittelpunkt stehen die Kinder und nicht das System oder die Lehrer. Diese Begeisterung, die die Kinder vermittelt bekommen, ist in meinen Augen ein Kernpunkt dieser Mehrstufenklasse.
derStandard.at: Was entgegnen Sie Kritikern, die meinen, es fehle in der Mehrstufenklasse an Struktur?
Kittler: Die Kritiker lade ich freudig ein, meinen Film im Kino anzusehen. Viele denken, das sei nur Kuschelpädagogik und die Kinder würden zu wenig lernen. Ich kann nur sagen: Die Kinder werden gut gefordert und lernen wahnsinnig viel. Sie schaffen die spätere Umstellung auf Regelschulen mit Noten und strengerem Stundenplan ohne Lernprobleme und sind hervorragende SchülerInnen.
derStandard.at: Sie haben die Mehrstufenklasse an der Wiener Volksschule Brioschiweg im 22. Bezirk begleitet. Dabei handelt es sich nach wie vor um einen Schulversuch.
Kittler: Es ist eine Mehrstufen-Integrationsklasse, die als Schulversuch in einer ganz normalen öffentlichen Wiener Volksschule geführt wird. Er läuft seit ungefähr 13 Jahren, und es ist ganz wichtig zu betonen, dass es davon mehr als hundert in ganz Wien gibt. Das heißt, das Modell ist eigentlich schon etabliert, aber es ist immer noch ein Schulversuch, für den jedes Jahr wieder neu angesucht werden muss. Es stellt sich für die Schule also immer die Frage: Dürfen wir das weiterführen? Eine Mehrstufenklasse ist schon personalaufwendiger und etwas teurer. Aber ich bin sicher, dass die Politik bald auf die riesige Nachfrage, die es vonseiten vieler Eltern gibt, reagieren wird.
derStandard.at: In Ihrem Film scheint es, als gebe es in der Klasse keine Probleme. Funktioniert das wirklich alles immer so reibungslos?
Kittler: Ich bin weder Lehrerin noch Bildungsexpertin, ich bin die Regisseurin, die den Film gemacht hat. Die Lehrerinnen sagen, es hat in den 13 Jahren nur ein Kind gegeben, es war ein Kind mit besonderen Bedürfnissen, das nicht in diese Klasse gepasst hat. Das Kind war autistisch und hatte Angst vor so vielen Kindern. Es ist dann in eine Sonderschule gekommen.
Ich habe die Klasse sehr harmonisch erlebt. Und wenn es Reibungen gibt – die gibt es überall, in jeder Gruppe -, dann wird das besprochen. Jede Woche gibt es einen Klassenrat. Jedes Kind kann schreiben und vortragen, was ihm nicht gepasst hat, was es toll findet. Es geht in Richtung partizipiale Demokratie. Die Kinder fühlen sich damit wohl.
derStandard.at: Die Lehrerinnen kommen sehr engagiert rüber. Was zeichnet sie aus?
Kittler: Diese Schulform lebt von den Lehrerinnen. Sie verstehen, was sie tun, und sind irrsinnig sensible Menschen, die von Herzen engagiert sind. Sie sind fasziniert von ihrem Beruf und leben ihn hundertprozentig. Es ist gar nicht gesagt, dass es speziell Montessori-ausgebildete Lehrerinnen sind. Die eine ist Kunsthistorikerin und hat eine Ausbildung zur Sonderpädagogin gemacht. Sie hat sich ihre eigene Methode aus vielen pädagogischen Formen mit der Zeit erarbeitet.
derStandard.at: Würden Sie empfehlen, diese Schulform flächendeckend einzuführen?
Kittler: Selbstverständlich bin ich dafür. Ich glaube, dass diese 13 Jahre Schulversuch gezeigt haben, dass er funktioniert. Schaut euch den Film an und entscheidet selber. Glaubt ihr, dass diese Form funktioniert? Meine Antwort kann nur Ja sein. Warum? Ich denke, dass die Gesellschaft sehr viel davon hätte, dass Menschen heranwachsen, die selbstbewusst sind und lernen, selbstbestimmt zu handeln.
Die Politiker oder die Gesellschaft brauchen keine Angst davor haben, dass Menschen heranwachsen, die zu kritisch sind oder die vielleicht das System umstürzen. Ich glaube, dass diese Menschen unsere kranke Welt wesentlich zum Positiven verändern könnten. Es wächst eine neue Generation heran, die es in den letzten 200 Jahren nicht gegeben hat – solange dieses Bildungssystem so ausgesehen hat. Natürlich hat sich schon viel verändert, die Schulen sind nicht mehr so wie im Jahr 1850. Aber es finden sich immer noch Grundzüge aus diesem vom Militär geprägten System Schule.
derStandard.at: Welche neuen Aufgaben muss die Schule übernehmen? Welche Eigenschaften brauchen junge Menschen heute?
Kittler: Wie auch die Lehrerin im Film sagt, die Wirtschaft fordert heute Menschen, die selbst denken, kreativ und selbstbestimmt arbeiten können. Die Unternehmer beklagen sich ja über 15-Jährige, die vielleicht Mathematik beherrschen, aber sie können sie nicht brauchen, weil sie zu wenig selbstständig sind. Auf die Jungen kommen riesige Aufgaben zu, die nur mit einem radikalen gesellschaftlichen, ökologischen und politischen Wandel einhergehen können. Dafür braucht es Hirn und Herz. Herzensbildung sollte der Hauptgegenstand in allen Schulen sein.
derStandard.at: Ihr Film stößt auf viel Resonanz, die Spieldauer wurde jetzt sogar verlängert. Wie erklären Sie sich den Erfolg?
Kittler: An sich ist das eine sehr kleine Low-Low-Budget-Produktion, die jetzt ungewöhnlich starke, auch mediale Resonanz erfahren hat. Das Kino ist schon die dritte Woche so stark besucht, dass „1+1=100“ vermutlich bald österreichweit gezeigt wird. Ich denke, dass es nicht nur darum geht, dass die Menschen vom Schulsystem frustriert sind. Sie spüren, dass uns das Wasser bis zum Halse steht, sehnen sich nach echten Alternativen und verstehen, dass Bildung dabei eine Schlüsselfunktion einnehmen muss. Hier bekommen die Leute ein lebendiges Bild von einem positiven Beispiel, wie Schule funktionieren kann. Und das macht sie einfach glücklich. In den Kinovorstellungen wird viel gelacht, und danach gibt es intensive und emotionale Diskussionen. Humor scheint tatsächlich eine gute Waffe zu sein. (Rosa Winkler-Hermaden, derStandard.at, 7.5.2012)
Doris Kittler, geboren 1969 in Wien, studierte Bühnen- und Kostümgestaltung an der Universität Mozarteum in Salzburg. Von 2000 bis 2002 arbeitete Kittler als Lektorin in Sibirien. Dort entstanden ihre ersten Dokumentarfilme. 2009 und 2010 hat sie die Proteste gegen die Errichtung des Konzertsaals der Wiener Sängerknaben am Wiener Augartenspitz filmisch dokumentiert.