In Memoriam: Remo Largo

„Der Leistungsdruck ist viel zu hoch“

Veröffentlicht am 28.02.2009 in der Zeitschrift WELT ONLINE |

Von Insa Gall

Der Schweizer Kinderarzt Remo Largo gehört zu den bekanntesten Autoren von Erziehungsratgebern. In seinem jüngsten Buch richtet er einen neuen Blick auf gute Schule. „Schülerjahre. Wie Kinder besser lernen“ ist ein Plädoyer für eine Schule, die vor allem auf die Bindung zwischen Schüler und Lehrer setzt.

WELT ONLINE: Herr Largo, wie muss gute Schule aus Sicht eines Entwicklungsspezialisten aussehen?

Remo Largo: Wir haben versucht, gute Schule vom Kind her zu denken. Sich geborgen zu fühlen und angenommen zu sein, sind Grundvoraussetzungen für erfolgreiches Lernen. Niemand zweifelt daran, dass die Bindung der Kinder an die Eltern entscheidend für ihre Entwicklung ist. Doch wenn die Kinder in die Schule kommen, geht man davon aus, dass sie dort emotional autonom funktionieren. Das ist sicherlich nicht der Fall. Die Kinder haben eine Bereitschaft, sich an die Lehrer zu binden und somit emotional abhängig zu werden. Wenn sie sich wohl fühlen, lernen sie besser. Das ist nicht „Nice To Have“, sondern eine echte Notwendigkeit. ?Die Leistungen der Kinder hängen stark von den Bindungen ab, die sie eingehen. Das betrifft die Beziehung vom Kind zum Lehrer, aber auch die vom Lehrer zu den Eltern, der Kinder untereinander und letztlich auch vom Lehrer zu seinen Kollegen.

WELT ONLINE: Wird das in unseren Schulen berücksichtigt?

Largo: Kaum. Beziehungen aufzubauen, hat leider keine Priorität und gilt als zu aufwendig. Emotionen sind in der Schule oft regelrecht tabu. Das ist nicht kindgerecht. Wenn wir nachschauen, warum manche Klassen völlig aus dem Ruder laufen, ist ein wesentlicher Grund intensiver Lehrerwechsel. Weil die Kinder irgendwann nicht mehr bereit sind, sich zu binden, sind sie auch nicht mehr führbar. Das Kind muss erleben, dass es vom Lehrer gemocht und akzeptiert wird, selbst wenn es keine guten Leistungen erbringt. Zudem ist doch unglaublich: Die Eltern geben ihre Kinder 1000 Stunden im Jahr in die Schule und kennen die Personen kaum, die es betreuen. An informellen Elternabenden kann keine persönliche Beziehung zu den Eltern entstehen. Dazu braucht es mehr, beispielsweise Hausbesuche.

WELT ONLINE: Sie betonen die Bedeutung von Geborgenheit, Zuwendung und feste Bindungen für die Schulentwicklung eines Kindes. Das klingt nach Wohlfühlpädagogik.

Largo: Natürlich verwechseln Kritiker dies oft mit Kuschelpädagogik. Sie wollen nicht kuschelnde, sondern kuschende Kinder. Es ist eigentlich offensichtlich, dass eine gute Pädagogik vertrauensvolle Beziehungen voraussetzt. Viele Lehrer sind oft nur dann in der Schule, wenn sie unterrichten. Für den Aufbau der Beziehungen wäre es besser, wenn sie ihre ganze Arbeitszeit in der Schule zubrächten.

WELT ONLINE: Die Pisa-Studie hat den Leistungsgedanken stärker in der Schuldiskussion verankert. Ist das verkehrt?

Largo: Das Verdienst der Pisa-Studie ist es, deutlich gemacht zu haben, welch großen Unterschied es macht, ob ein Kind in einer bildungsnahen oder -fernen Familie aufwächst. Viel mehr kann ich daraus nicht ablesen. Aber generell ist festzustellen, dass der Leistungsdruck auf die Kinder vielfach zu hoch ist. Die meisten Familien haben gerade noch ein oder zwei Kinder, und die müssen dann zum Erfolg werden. Wichtig wäre eine Debatte darüber, was ist Leistung oder Schulerfolg und was ist echtes Lernen? Denn diese haben oft wenig bis gar nichts miteinander zu tun. Es ist ein Missverständnis zu glauben, wenn ein Kind in der Schule erfolgreich ist, hat es auch etwas gelernt. Denn es wird zu viel auswendig gelernt, abgeprüft und dann gleich wieder vergessen. Erinnern wir uns an den Mathematik-Unterricht: Was ist uns geblieben, was brauchen wir heute noch? Meist sind es leider keine kind- und entwicklungsgerechten Argumente, die das Curriculum bestimmen. Echte Bildung orientiert sich an der kindlichen Entwicklung und wird nicht ausschließlich von den Erwachsenen bestimmt.

WELT ONLINE: Was muss ein guter Lehrer für seinen Beruf mitbringen?

Largo: Der Lehrer begreift sich als Spezialist für das Kind als ein lernendes Wesen. Meist wird er heute über sein Fach definiert, und das ist falsch. Ein guter Lehrer ist für mich einer, der sich für das Kind, und nicht nur für das Fach interessiert, für den schwache Kinder eine Herausforderung und nicht eine Belastung bedeuten.

WELT ONLINE: Wie groß ist der Anteil der Lehrer, die für ihren Beruf geeignet sind?

Largo: Die Auslese für den Lehrerberuf läuft leider häufig falsch. Ich würde empfehlen, dass all diejenigen, die Lehrer werden wollen, erst einmal ein halbes Jahr mit Kindern verbringen. Dann merken sie von selbst, ob sie geeignet sind, oder ihre Ausbilder weisen sie darauf hin. Sie müssen als Lehrer fähig sein, auf die Vielfalt der Schüler und ihrer Lernstände einzugehen, indem sie den Unterricht individualisieren.

WELT ONLINE: In Hamburg wird das Schulsystem 2010 komplett umgestellt. Was halten Sie von der Reform?

Largo: Wenn man nur auf die Struktur schaut, blickt man zu kurz. Bedeutsam ist nicht nur die Struktur, sondern vor allem das pädagogische Konzept. Man kann die Kinder noch so lange immer wieder anders einteilen, letztlich ist entscheidend, was pädagogisch umgesetzt wird. Wie weit wird beispielsweise der Unterricht individualisiert? Ohne Individualisierung wird längeres gemeinsames Lernen nicht funktionieren. Tut man es, garantiert dies noch nicht den Erfolg, aber es ist eine notwendige Voraussetzung.

WELT ONLINE: Können Lehrer innerhalb eines Jahres mit einer Fortbildungsoffensive so fit gemacht werden, dass sie auch sehr gemischte Lerngruppen bestmöglich fördern können?

Largo: Die Offensive ist auf jeden Fall begrüßenswert. Wenn sie das in so kurzer Zeit schaffen, dann haben sie meine echte Bewunderung. Mein dringender Rat wäre, nicht aufzugeben, wenn das Ziel in 2010 noch nicht erreicht ist, sondern weiterzumachen.

WELT ONLINE: Auch die Noten sollen bis zur sechsten Klasse abgeschafft werden, stattdessen gibt es Kompetenzraster.

Largo: Wenn man konsequent individualisiert, machen Noten keinen Sinn mehr. Sie sollten durch Kompetenzraster ersetzt werden. Diese werden als sehr aufwendig eingeschätzt, kosten aber im Schulalltag weniger Zeit als befürchtet.

WELT ONLINE: Viele Eltern sagen, dass ihre Kinder durch Noten eher motiviert werden.

Largo: Das ist eine Frage der Lebenshaltung. Wenn Sie davon ausgehen, dass Kinder nur etwas leisten, wenn sie einen Anreiz haben, beispielsweise durch Noten, dann kann man das schon machen. Ich denke, weite Teile der Bevölkerung denken leider so. Aber Noten begünstigen nur das Lernen für die Prüfung. Wenn Kinder entwicklungsgerecht lernen dürfen, lernen sie aus sich heraus.

WELT ONLINE: Lassen sich soziale Unterschiede durch Schule ausgleichen?

Largo: Wenn die Kinder in die Schule kommen, dann ist der Zug schon abgefahren. Wer etwas verbessern will, muss im Vorschulalter ansetzen. Rückstände beispielsweise in der Sprachkompetenz, die sich in den ersten fünf Lebensjahren einstellen, lassen sich später kaum noch aufholen. Dem längeren gemeinsamen Lernen und damit einer späteren Aufteilung der Kinder kommt dagegen eine große Bedeutung bei der Sozialisierung zu.

WELT ONLINE: Wann sollte die Entscheidung für eine weiterführende Schule fallen?

Largo: Es gibt keine guten pädagogischen Gründe, die Kinder zu früh zu trennen, sondern nur sozialpolitische und elitäre, die pseudopädagogisch begründet werden. Deutschland beendet die Gesamtschule in der vierten Klasse, die Schweiz in der sechsten und Finnland erst in der neunten Klasse. Wer ist Pisa-Weltmeister? Finnland. Eine Gesamtschule ist also offensichtlich kein Nachteil – sofern das pädagogische Konzept stimmt.