Frau Professor aus dem Arbeitermilieu?

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Frau Professor aus dem Arbeitermilieu?

Die Debatte über Diversität an Hochschulen hat einen blinden Fleck: nämlich die soziale Herkunft des akademischen Personals. Der Weg zur Professur wird für Arbeiterkinder immer schwieriger. Das gilt besonders für Frauen.

4. Jänner 2021, 8.16 Uhr

Die soziale Herkunft von Hochschul-Professorinnen und Professoren wird kaum thematisiert. Ist es doch die intellektuelle Leistung, die vermeintlich den Ausschlag gibt, ob jemand einen Lehrstuhl bekommt oder nicht. „Ich denke, dass in der Wissenschaft ein immer noch besonders ausgeprägter meritokratischer Glaube vorherrscht.“, sagt Christina Möller, Soziologieprofessorin an der Fachhochschule Dortmund. Dabei werde häufig vergessen, dass allein die Möglichkeit eine akademische Karriere einzugehen stark von der sozialen Herkunft abhängt.

Soziale Schließung an den Universitäten

Bildung wird in Österreich vererbt. Je höher das formale Bildungsniveau der Eltern, desto wahrscheinlicher studieren die Kinder. Laut der aktuellen Sozialerhebung haben die Studierenden zu vier Prozent der Eltern mit maximal Pflichtschulabschluss – aber zu 39 Prozent Eltern mit einem Studienabschlusss. Zur sozialen Herkunft des wissenschaftlichen Personals gibt es keine Daten – weder in Österreich noch in Deutschland.

Christina Möller hat eine repräsentative Befragung von Professorinnen und Professoren im deutschen Bundesland Nordrhein-Westfalen gemacht. „Mein Ergebnis war, dass nur rund jeder zehnte Professor bzw. Professorin ein sogenanntes Arbeiterkind ist oder aus ähnlich situierten Familien stammt.“ Dabei kommen Professorinnen (sieben Prozent) noch seltener aus einer Arbeiterfamilie als Professoren (elf Prozent). Für Frauen sei eine Professur besonders herausfordernd: Sie müssen sich nicht nur in der immer noch Männer dominierten Wissenschaft durchsetzen, sondern konkurrieren zudem mit Frauen aus privilegierten sozialen Schichten.

Wissenschaftskarrieren werden immer elitärer. Man könne eine soziale Schließung beobachten. So sind Akademikerkinder laut Möller in der Professorenschaft heute stark überrepräsentiert, wenn man sich im Vergleich dazu den Anteil an Akademikerinnen und Akademikern in der Gesamtgesellschaft ansieht. „61 Prozent der jüngsten Professorinnen und Professoren stammen aus akademischen Familien. Und wir haben im Moment erst 24 Prozent in der Erwerbsbevölkerung, die akademisch gebildet sind.“ Auch würden Wissenschaftskarrieren immer normierter werden. Professorinnen und Professoren weisen heute viel stärker als früher einen geraden Bildungsweg auf, am besten verknüpft mit Auslandsaufenthalten an renommierten Universitäten. „Von diesem Trend profitieren in der Regel Akademikerkinder, die bereits Kenntnisse über das akademische Feld sowie mehr ökonomische und soziale Ressourcen, etwa in Form von Netzwerken, mitbringen.“

Wissenschaftliche Aufstiegsbiographien

In seinem Buch „Rückkehr nach Reims“ erzählt der französische Soziologe Didier Eribon seine Lebensgeschichte. Aufgewachsen im Arbeitermilieu der nordfranzösischen Kleinstadt Reims, musste er viele Hürden überwinden, um im Pariser Intellektuellenmilieu Fuß zu fassen. Je erfolgreicher Eribon wurde, desto stärker entfernte er sich von seiner Herkunftsfamilie, bis er eines Tages zurückkehrte. Die Rückkehr war auch ein „Wiedersehen mit einem negierten Selbst“.

Das Buch wurde zum Bestseller und hat auch einen Reflexionsprozess in der Wissenschaft angestoßen. Gleich ein paar Bücher, die sich dem Thema Klassismus widmen, wurden letztes Jahr publiziert. In dem von Christina Möller mitherausgegeben Buch „Vom Arbeiterkind zur Professur“ schildern deutsche Professorinnen und Professoren aus Arbeiterfamilien ihre Aufstiegserfahrungen. Erfahrungsberichte von Aufsteigerinnen und Aufsteigern findet man auch in “Klassimus und Wissenschaft“. Die soziologische Reflexion über soziale Herkunft ist nicht neu. Bereits Anfang der 2000er Jahre unternahm der französische Soziologe Pierre Bourdieu, selbst „Klassenwechsler“ eine solche in seiner Anti-Autobiographie „Ein soziologischer Selbstversuch“.

Gefühle der Nichtzugehörigkeit und der Scham

Die Biographien derjenigen, die es aus einer Arbeiterfamilie in eine Professur geschafft haben, sind vielfältig. Und doch gibt es gewisse Gemeinsamkeiten, bestimmte Beschreibungen, auf die man immer wieder trifft: Gefühl der Scham etwa oder der Nichtzugehörigkeit. Wer sich im akademischen Milieu einlebt, die akademische Sprache und den akademischen Gestus annimmt, entfremdet sich gleichzeitig von der Herkunftsfamilie. Dieser Spagat fällt vielen schwer. Manche haben sogar das Gefühl ihren hart erarbeiteten Platz an der Hochschule ungerechtfertigter Weise inne zu haben.

„Es ist erstaunlich, wie lange es gedauert hat bei mir, bis mir die Klassenstrukturen an der Universität klar geworden sind.“, erzählt Ruth Sonderegger Professorin für Philosophie und ästhetische Theorie an der Akademie der bildenden Künste in Wien. Aufgewachsen im katholisch geprägten Kleinbürgertum habe sie sich sehr lange mit der Institution Universität vollständig identifiziert und habe versucht, alle Anforderungen der akademischen Welt zu erfüllen. Dass sie heute Klassenstrukturen sieht, analysiert und kritisiert, habe sie unter anderem der Lektüre von bell hooks Buch „Where we stand: Class Matters“ zu verdanken. Darin verknüpft die afro-amerikanische Literaturwissenschafterin, die selbst einen Milieuwechsel vollzogen hat, die Themen Rassismus, Feminismus und Klassismus und berichtet auch vom selbst erlebten akademischen Klassismus.

Diese Entfremdung von der Herkunft, die Scham und die Tatsache, dass das ganze Leben als Prüfungssituation wahrgenommen wird: In diesen Erfahrungen erkannte Ruth Sonderegger sich selbst wieder. Heute lehrt und forscht sie an einer Kunstuniversität und damit an einem Ort, an dem soziale Herkunft besonders zählt. 54 Prozent der Studierenden von Kunststudien kommen in Österreich aus einem Akademikerhaushalt, höher ist der Anteil mit 58 Prozent nur in der Medizin. Doch heute thematisiert Ruth Sonderegger ihre Herkunft und auch die Absolventinnen und Absolventen der Akademie prangern den vorherrschenden Klassismus an, wie in der letzten AbsolventInnenbefragung sichtbar wurde. Man müsse weiterhin von Klassen reden, ist die Philosophieprofessorin überzeugt. Das Reden über Diversität helfe nicht dabei Ungleichheit zu reduzieren, es verschleiere vielmehr die Machtverhältnisse, die mit Klassenstrukturen einhergehen. Zentral sei die Frage: Warum gibt es Klassen, wer will sie und warum werden sie von wem mitgetragen?

Juliane Nagiller, Ö1-Wissenschaft

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