Von Prof. Dr. Olaf-Axel Burow
Erschienen in der Zeitschrift: „Pädagogische Führung“ 6 (2020) und für unsere Plattform dankenswerterweise von Prof. Dr. Olaf-Axel Burow zur Verfügung gestellt.
Die Corona-Krise rückt die seit langem anstehenden Frage nach einer zukunftsfähigen Schule ins Zentrum, hat sich doch ein unhaltbarer Zustand offenbart: Wie kann es sein, dass das jederzeit mögliche Auftreten eines Virus die Funktionsfähigkeit vieler Schulen so massiv beeinträchtigt hat, das Unterricht zeitweise kaum noch möglich war und Lehrer, Schüler und Eltern überfordert wurden?
Offenbar sind unser Bildungssystem insgesamt und die Schule im Besonderen so konstruiert, dass sie nur unter Schön-Wetter-Bedingungen funktionieren und dies – bwohl längst alternative Lehr-/Lernkonzepte und technische Unterstützungssysteme entwickelt sind, die einen Unterrichtsbetrieb auch unter Pandemiebedingungen problemlos ermöglichen. Dass dies keine Theorie ist, zeigen einige innovative Schulen, die weniger Probleme mit der Krisenbewältigung haben, weil sie sich rechtzeitig auf die schon unabhängig von Corona geforderten Anforderungen für selbstgesteuertes und digital unterstütztes Lehren und Lernen eingestellt haben.
Hier drängt sich die Frage auf: Wie kann es sein, dass gut ausgestattete Kultusverwaltungen weitgehend unvorbereitet auf die Krise reagierten, während einige Schulen in der Lage sind, zu zeigen, wie Krisenbewältigung gelingen kann. Mehr noch: Dass einige Schulen sogar in der Lage sind, Anregungen dafür zu geben, wie eine zukunftsfähige, krisensichere Schule gestaltet werden kann. Im Kontrast zu dieser proaktiven Haltung der Praktiker vor Ort steht die rückwärtsgewandte Haltung zu vieler Schulverwaltungen. Statt die Krise für eine Fortbildungsoffensive, eine Organisationsreform und eine längst anstehende Modernisierung der Schule zu nutzen, erlebten wir kurzfristige Maßnahmen der Krisenbewältigung, die meist von der Illusion getragen wurden, es wäre eine Rückkehr zum „normalen“ Schulbetrieb möglich.
Doch schon vor Corona war klar, was der neue Bildungsbericht (www.bildungsbericht.de) faktengesättigt bloßlegt: Schule hat einen massiven Modernisierungsbedarf. In schnell sich wandelnden Zeiten, angesichts der Herausforderungen von Globalisierung und Digitalisierung, des Gegensatzes von arm und reich, von Klimawandel und Pandemie wandeln sich die Anforderungen an Bildungseinrichtungen. Spätestens jetzt ist sichtbar geworden, dass wir alle in einer „Weltrisikogesellschaft“ leben und wir uns auf vielfältige Bedrohungen, aber auch unvorhersehbaren Wandel einstellen müssen. Anstatt sich auf die Vermittlung von Inhalten und Lösungen der Vergangenheit zu konzentrieren, sollten Schulleitungen und Lehrkräfte die Krise deshalb nutzen, um innovative Wege zu entwickeln wie sie die „21st century skills“, die zentralen Zukunftskompetenzen vermitteln können, nämlich: Kritisches Denken und Problemlösen, Kommunikation und Kollaboration, Kreativität und Innovation sowie Umgang mit Unsicherheit.
Statt kurzfristiger Krisenbewältigung gilt es die Zeit zu nutzen, durch neue Organisations-, Lehr-und Lernformate Schule krisenfest und zukunftssicher zu machen. Die Schlüsselfrage lautet: Wie könnten wir die krisensichere Schule der Zukunft schaffen? Eine mögliche Antwort liefern Konzepte der „Resilienz… (verstanden als psychische Widerstandsfähigkeit ist die Fähigkeit, Krisen zu bewältigen und sie durch Rückgriff auf persönliche und sozial vermittelte Ressourcen als Anlass für Entwicklungen zu nutzen). So hat, um ein Beispiel zu geben, die Forschung gezeigt, dass Kinder selbst, wenn sie unter schwierigsten Bedingungen aufwachsen eine psychische Widerstandsfähigkeit ausbilden können. Voraussetzung dafür sind resilienzförderliche Faktoren, wie z.B. eine Person, die das Kind stützt. Die Katastrophensoziologie erweitert den Begriff über die Betrachtung der Resilienzfähigkeit der einzelnen Person hinaus, indem sie Resilienz als robuste Widerstandskraft ganzer Gesellschaften versteht, die von einer resilienzförderlichen Umgebungsgestaltung sowohl in sozialer wie auch baulicher Hinsicht abhängt. Auch in der Ökologie wird der Begriff verwendet und bezeichnet die Fähigkeit von Ökosystemen sich nach Katastrophen zu regenerieren. Im Gesellschaftsdiskurs schließlich hat sich „Resilienz“ vor allem als Gegen-bzw. Komplementärbegriff zur „Vulnerabilität“ (Verwundbarkeit) etabliert. „Im Vordergrund steht dabei die Frage nach der Widerstands-und Regenerationsfähigkeit von Gesellschaften angesichts komplexer und zunehmend unvorhersehbarer, auch von Menschen verursachter Risiken. Dabei wird davon ausgegangen, dass Gesellschaften solche Risiken nicht nur bewältigen, sondern auch aus ihnen lernen, sich an zukünftige Herausforderungen anpassen und sich so transformieren können.“ Seit Ende der neunziger Jahre wird der Resilienzbegriff schließlich auch auf Unternehmens- bzw. Organisationskonzepte angewandt. Die Frage ist hier, welche Kriterien eine Organisation erfüllen muss, um so robust zu sein, dass sie unvorhersagbare Krisensituationen – beginnend bei Technologiesprüngen über Wirtschaftskrisen bis hin zu Marktentwicklungen und ähnlichem – bewältigen kann. Als zentrale Krisenbewältigungsfaktoren haben sich dabei die Entwicklung einer Fehlerkultur und die Verringerung von Komplexität erwiesen…
Einige LeserInnen werden sich jetzt vielleicht fragen, was diese Konzepte für ihren schulischen Alltag bedeuten und inwiefern Resilienzkonzepte hilfreich für die Entwicklung krisensicherer Schulen sein können. Wie ich nachfolgend zeigen werde, bin ich in der Tat der Auffassung, dass eine Kombination der verschiedenen Verwendungsweise des Begriffs und der dahinterstehenden Konzepte wichtige, Hinweise für die Gestaltung „resilienter“ Schulen liefern kann. Was also charakterisiert eine weitgehend krisensichere, resiliente Schule?
Wenn in unübersichtlichen Lagen schnelles Handeln gefordert ist, dann kommt es darauf an, die Komplexität soweit zu verringern, so dass alle Beteiligten handlungsfähig werden. Hier ist „Simplexity“ gefordert, die Handhabbarmachung von Komplexität durch die Fokussierung auf die wichtigsten Kernelemente. Simplexity erreicht man durch gemeinsam entwickelte Kernwerte, die dem Handeln in komplexen Situationen klare Orientierungen geben… und die durch einfache Elemente konkretisiert werden…, wie z.B.:
1. Alle Schüler sind systematisch in Formaten selbstgesteuerten Lernens trainiert
2. Jeder Schüler verfügt über ein digitales Endgerät, dessen Bedienung er/sie beherrscht
3. Der gesamte Unterrichtsstoff ist in digitalisierter Form verfügbar und jederzeit leicht abrufbar
4. Eine digitale Lernplattform unterstützt das Lernen mit schülergerechten Formaten wie z.B. Erklärvideos, ausgewählten Apps etc.
5. Die LehrerInnen sind im analogen und digitalen Coaching (z.B. via Zoom) ausgebildet.
Häufig wird in traditionell aufgestellten Kollegien noch immer ein ideologischer Grabenkampf um den scheinbaren Gegensatz „analog versus digital“ ausgefochten. Doch wie die Erfahrungen innovativer Schulen bei der Bewältigung der Krise gezeigt haben, beruht diese Frontstellung auf falschen Vorstellungen, denn analog und digital – vorausgesetzt ein entsprechendes pädagogisch-didaktisches Konzept sowie technische Unterstützungssysteme sind vorhanden – können einander optimal ergänzen. Ähnlich wie bei Flugzeugen, bei denen die wichtigsten Systeme in doppelter Ausfertigung vorhanden sein müssen, brauchen krisensichere Schulen, doppelte „Systemausstattungen“, die es im Krisenfall ermöglichen, einen Ausfall von Teilbereichen zu kompensieren. So können – falls wie in der Corona-Krise –der Präsenzunterricht nicht oder nur eingeschränkt möglich ist, digitale Medien ein Unterrichten weiter ermöglichen und zum Teil sogar, in optimierter, personalisierter Form. Längst bieten frei zugängliche und kostenfrei zu nutzende Lernplattformen wie z.B. die Khan-Academy bereits heute nicht nur den gesamten Mathestoff in ca. 4000 Erklärvideos, sondern auch differenzierte Unterrichtshilfen für fast alle Fächer. Sebastian Nüsse, um eine weitere Anregung zu geben (www.mediencoaching.nrw.), hat 60 „Toolkits“ für gelungenen digitalen Unterricht zusammengestellt. Natürlich kann digitales Unterrichten nicht den persönlichen Kontakt vor Ort ersetzen, aber kreative Lehrer können z.B. via Zoom auch einen intensiven persönlichen Kontakt mit ihren Schüler/innen aufrechterhalten…
Die Erfahrungen der Corona-Krise können also produktiv genutzt werden, wenn wir sie als Weckruf verstehen, gemeinsam mit Lehrern, Schülern, Eltern, aber auch dem Schulträger und der Schulverwaltung Konzepte resilienter Schulentwicklung umzusetzen. Hierzu sollten Sie das gesamte traditionelle Schulkonzept auf den Prüfstand stellen, beginnend bei der Organisations-und Zeitstruktur über Unterrichtsformate bis hin zu technischen und baulichen Adaptierungen…
Siehe auch: Burow O.A. (2021): Die Corona-Chance: Durch sieben Schritte zur resilienten Schule. (erscheint im März 2021).