Von Univ.-Prof. i.R. Dr. Michael Schratz
Geschrieben für das „Deutsche Schulportal“ ( https://deutsches-schulportal.de/expertenstimmen/michael-schratz-schulen-corona-positiv-innovationsschub-fuer-das-bildungssystem/) und für unsere Plattform dankenswerterweise von Univ.-Prof. i.R. Dr. Michael Schratz zur Verfügung gestellt.
Die Corona-Pandemie hat den Schulalltag verändert. Seit Monaten kann der Unterricht nicht mehr so stattfinden, wie wir es über Jahrzehnte gewohnt waren. Der Bildungsforscher, Erziehungswissenschaftler, Schulpädagoge, Gründungsdekan der School of Education an der Universität Innsbruck Michael Schratz, der auch Sprecher der Jury des Deutschen Schulpreises ist, lenkt den Blick aber weg von den Einschränkungen hin zum Innovationsschub, den viele Schulen durch die neue Situation erlebt haben. In seinem Gastbeitrag für unsere Plattformnennt er fünf Schlüsselbereiche, in denen Schulen sich schon auf den Weg gemacht haben und sich weiterentwickeln sollten.
Der Raum als „dritter Pädagoge“
Laut Schratz sei der virtuelle Raum zum „dritten Pädagogen“ zwischen Lehrenden und Lernenden geworden. Nicht die räumliche Nähe bestimmte den Unterrichtserfolg, sondern die lernseitige Haltung: Manche Kinder und Jugendliche berichteten, sich im virtuellen Raum mehr eingebracht oder mehr persönlichen Kontakt zur Lehrperson gehabt zu haben als im Klassenzimmer. Pandemiebedingt erfolgte ein neues Nähe-Distanz-Bewusstsein, die stärkere Einbeziehung des Lebensraums und die Öffnung des Schulraums zum Umfeld, zum Beispiel in der „Draußenschule“.
Die Zukunftsfrage: Welche Möglichkeitsräume (er)finden wir, die auf Kreativität abzielen und die Lebenswelt einbeziehen, um alle Schülerinnen und Schüler zu erreichen, ohne dass sie ihren Unterricht im Klassenraum absitzen müssen?
Zeit schafft Struktur
Die Einteilung der Zeit taktet den Schulalltag und bestimmt über Freiheit und Kontrolle. Je mehr Kinder und Jugendliche bereits im regulären Unterricht Verantwortung für ihre eigene Lernzeit übernehmen konnten, umso leichter taten sie sich. Zeitmanagement, Selbstverantwortung und die zeitliche Organisation im Alltag erfordern entsprechendes Training.
Die Zukunftsfrage: Welche zeitliche Organisation von Lerngelegenheiten sehen wir vor, um die Nutzung von „Qualitätszeit“ in die Eigenverantwortung der Betroffenen zu geben und deren Fähigkeit zur Strukturierung des Alltags zu stärken?
Beziehung braucht einander
Der Verlust an Nähe hat trotz oder gerade wegen der Distanz die Bedeutung der Beziehung erst richtig spürbar gemacht. Das Ausbleiben von Feedback oder gar das „Verlieren“ einzelner Kinder hat deutlich gemacht, dass Unterricht ein responsives Geschehen ist. Ebenso das Miteinander im Kollegium, was sich in der Aussage offenbart: „Ohne Psychologen und Sozialarbeiter wären wir schlichtweg aufgeschmissen!“
Die Zukunftsfrage: Wie gestalten wir Beziehungen zwischen Lehrenden und Lernenden, Elternhaus und Schule sowie innerhalb des Kollegiums, um den Bildungserfolg jedes einzelnen Kindes und Jugendlichen sicherzustellen?
Schule im Zeitalter der Digitalität
Der Digitalisierungsschub an Schulen war dem „Notunterricht“ geschuldet. Er machte diesbezügliche Schwachstellen im System sichtbar, insbesondere auch im Hinblick auf Chancengerechtigkeit. Mehr denn je stellen sich Fragen, wie junge Menschen im Zeitalter der Digitalität und der damit verbundenen gesellschaftlichen Transformation (über)leben lernen.
Die Zukunftsfrage: Wie nutzen wir den Digitalisierungsschub, um die künftigen Generationen auf die veränderten globalen Herausforderungen zur Selbstbestimmung und -verantwortung vorzubereiten?
Well-being als gesellschaftliche Perspektive
Die Schulschließung offenbarte, was Kinder an Schule haben: Die fehlende Sicherheit hat vielerorts das Leben destabilisiert und zu psychosozialen Herausforderungen geführt. Je stärker Kinder in der Schule Resilienz entwickeln können, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie im Leben ungewohnten Herausforderungen und unklaren Situationen mit Selbstwirksamkeit und Zuversicht begegnen.
Die Zukunftsfrage: Welche Maßnahmen setzen wir, damit Kinder und Jugendliche zu gereiften Persönlichkeiten werden, die im gesellschaftlichen Miteinander ein erfülltes Leben führen können und die erforderliche Resilienz erwerben, um an Herausforderungen zu wachsen?
Schulen brauchen Freiraum, um Innovationsschub zu nutzen
Aus den disruptiven Erfahrungen stellen sich abschließend die zentralen Fragen:
Passen unsere fest eingewurzelten Vorstellungen von Unterricht und von dessen Ergebnissen noch in unsere Zeit und zu unserer Schülerschaft?Wollen wir zurück zu der mancherorts wieder ersehnten „Normalität“ aus der Zeit, wie wir sie vor den Schulschließungen erlebt hatten?
Wenn wir die Jahrhundertchance und den damit verbundenen Innovationsschub nutzen wollen, bedarf es der Offenheit, mutig aus bisherigen Gewohnheiten auszubrechen und im Kollegium den Umgang mit Raum, Zeit, Beziehung, Digitalität und Well-being neu zu bestimmen. Dazu benötigen Schulen jenen Freiraum, der das Kollegium rasch und flexibel handeln lässt, wie es während der Schulschließung erforderlich war. Gelingt der Abbau von Regelungsdichte und überbordender Bürokratie zugunsten von mehr Eigenverantwortung am Einzelstandort nicht, kommt es wohl zur Schubumkehr zurück in die „alte Normalität“.