Heterogenität versus Homogenität – Ein Appell für mehr Vielfalt in den Klassen

Ein Interview des Initiators mit dem Initiator der Plattform

Wie lautet die Bestandsaufnahme des derzeitigen Ist-Standes bezüglich Homogenität und Heterogenität in Innsbrucks Schullandschaft?

Auch in Innsbruck orientiert sich der Geist in vielen Schulen nach wie vor am Prinzip homogenisierter Lerngruppen. Je geringer die Kompetenzunterschiede zwischen den Schülern und Schülerinnen, je angeglichener ihr Vorwissen, ihre Fähigkeiten und Begabungen und je ähnlicher die Verhaltensweisen, so glaubt man zumindest, desto besser kann der Unterricht funktionieren und desto bessere Leistungen kann man sich erwarten.

Wie versucht man in Innsbruck eine Homogenität herzustellen?

Um dieses Ziel zu erreichen, bedient man sich auch in unserer Stadt des Systems der Selektionierung sowie der bewussten Lenkung von Bildungsentscheidungen von unterschiedlicher Seite her.

Das beginnt eigentlich schon im Kindergarten und hängt stark mit der Wohnsituation zusammen. Je nachdem in welchem Gebiet man wohnt, ist nämlich die Diversität stärker oder weniger stark ausgeprägt. In manchen Stadtteilen leben recht gut situierte und bildungsnahe Bevölkerungsschichten, sodass der dortige Kindergarten über eine recht homogene Kindergruppe verfügt. In anderen Stadtteilen dagegen, die aufgrund der Wohnsituation sozial durchmischter sind, ist der Anteil der Heterogenität größer. Und, das sei auch nicht verschwiegen, gibt es natürlich in Innsbruck ebenfalls Brennpunktkindergärten, in denen sich ein hoher Anteil von Kindern befindet, die armutsgefährdet sind, deren Kenntnisse der deutschen Sprache rudimentär sind, die auf eine Förderung durch das Elternhaus nicht hoffen können. Kinder also aus marginalisierten Familien.

Auch in den Volksschulen Innsbrucks hat die Wohnsituation großen Einfluss auf die Zusammensetzung der jeweiligen Klasse, in die ein Kind gelangt. Außerdem kommt es auch manches Mal vor, dass man (auch wenn das in dem einen oder anderen Fall Sinn macht), um homogene Klassen zu erhalten, einige aussortiert, also in Vorschulklassen gibt oder im Laufe des Jahres den Erziehungsberechtigen nahe legt, ihre Kinder noch einmal die Klasse besuchen zu lassen. Damit reißt man sie aus dem gewohnten Umfeld heraus und zeigt ihnen, dass sie mit den anderen nicht mithalten können, was dazu führt, dass sie dies als massives Versagen erleben. Zumindest was die vorgegebenen Kompetenzen, vor allem in den von der Leistungsgesellschaft für wichtig erachteten Bereichen betrifft. Das, obwohl man weiß, dass Kinder mit Eintritt in den Schulalltag unterschiedlich vorgeprägt sind und die Unterschiede manchmal davon herrühren, ob sie vorher schon von der Elternschaft in schulischen Belangen gefördert wurden oder nicht. Hierbei braucht es schon einiges an Fingerspitzengefühl, an Erfahrung und Wissen sowie eingehender Beobachtung, um so etwas beurteilen zu können. Und man muss einigen Kindern auch Zeit geben. Die Reifungsprozesse sind nicht bei allen gleich. Und es gibt immer wieder auch eine Lenkung, vor allem von der privilegierten Einwohnerschaft, aber auch Direktorinnen und Direktoren „Elitevolksschulen“ zu führen bzw. „Eliteklassen“ einzurichten. Um dann in eine solche zu kommen gibt es sogar Fälle, dass Kinder, um in eine der begehrten Schulen zu gehen, an einer anderen Wohnadresse angemeldet werden oder dass intern Klassen nach einem Homogenitätsprinzip so zusammengesetzt werden, dass die vermeintlich Leistungsstarken sich in einer Klasse wiederfinden.

Noch selektiver wird es dann zum Übertritt in eine weiterführende Schule. Das in der vierten Klasse Volksschule maßgebliche Zeugnis bzw. die Ausstellung der Gymnasialreife führt dazu, dass rund die Hälfte der Innsbrucker Kinder in ein Gymnasium und rund die Hälfte eine Mittelschule besuchen. In diesem Zusammenhang muss gar nicht behauptet werden, dass die VolksschullehrerInnen dies nicht einzuschätzen wissen, wer wofür geeignet ist. Aber angesichts der dürftigen Aussagekraft von Noten und den unbewussten Einflussfaktoren (so wird nachgewiesenermaßen massiv nach der sozialen Herkunft sortiert) scheint es doch recht anmaßend zu sein, hier schon ein Urteil fällen zu können. Inwieweit hierfür sogar ein Schlüssel vorhanden ist (Vorgabe nur eine bestimmte Anzahl von Schülern und Schülerinnen eine Gymnasialreife auszustellen), entzieht sich weitgehend meiner Kenntnis, erscheint mir aber nicht unwahrscheinlich.

Fazit: Die unterschiedlichen Voraussetzungen der einzelnen Lernenden werden auch in Innsbruck als unerwünschte Störung des Systems, als Ärgernis, denn als Erkenntnis, dass wir alle einzigartige Wesen sind und niemand perfekt ist, empfunden. Befeuert und unterstützt wird dies zudem von einem Teil der am Bildungsprozess Beteiligten mit elitären Ansichten und vor allem von einem nicht unbeträchtlichen Anteil von Erziehungsberechtigten, die sich gerne im Kreise ihresgleichen sehen, und zwar sowohl in bildungsnahen als auch bildungsferneren Schichten. Zudem kommt noch die Angst bildungsnaher Schichten hinzu, dass es bei heterogenen Gruppen zu einer Nivellierung nach unten kommt, ihre Kinder also nicht so gefördert werden, wie es sich die Eltern wünschen, und unausgesprochen, manches Mal auch klar und deutlich artikuliert, dass ihre Kinder mit Kindern mit Migrationshintergrund oder Verhaltensauffälligkeiten zusammen in eine Klasse gehen müssen. Der Angst der Nivellierung, die zwar unbegründet ist (Anmerkung: Forschungsberichte, wie z.B. der des Instituts für Bildungsforschung der Wirtschaft zeigen auf, dass es zu keiner Nivellierung nach unten kommt), gilt es natürlich entgegenzutreten und auch ernst zu nehmen. Es gilt eine win-win-Situation zu schaffen, indem man mithilfe der Begabtenförderung, Interessensschwerpunktsetzungen, Neigungsgruppen… auch jene zusätzlich fördert, die sich leicht in ihrer schulischen Entwicklung tun. Hierbei sei aber auch erwähnt, dass sich dieser Angst jahrzehntelang bereits konservative Kräfte erfolgreich bedienen, um eine Angst- und Panikmache gegenüber einer gemeinsamen Schule zu verbreiten und dies fällt leider auf fruchtbaren Boden bei Teilen der Eltern-Lehrer- und Direktorenschaft. Eine sachliche Diskussion wird somit auf eine emotionale Ebene verschoben, die einer konstruktiven Lösung im Wege steht und unsere Gesellschaft in verschiedene Lager spaltet. Auf der anderen Seite gibt es auch die Vorstellung, dass man den vermeintlich Schwächeren damit etwas Gutes tut, wenn man sie von den anderen trennt, weil man sie dadurch vor einer Überforderung schützt. Glaubt man jedoch wissenschaftlichen Abhandlungen, so ist dem nicht so, weil in homogenen Gruppen, bestehend aus vielen benachteiligten Kindern,  das Anregungspotential, der Kompetenzerwerb geringer und eine schul- und lerndistanzierte Haltung weit verbreiteter ist als in heterogenen Gruppen und das Arbeiten für LehrerInnen hiermit auch nicht leichter macht.

Kann man dem Prinzip der Homogenisierung entgegenwirken?

Dies zu durchbrechen ist, trotz zahlreicher innovativer, strukturverändernden Maßnahmen der letzten Jahre, wie Projekte, Schulversuche (auch in Innsbruck)… ein schwieriges Unterfangen. Die Akzeptanz von Heterogenität ist nämlich zu einem großen Teil davon abhängig, inwiefern sich im Kopf der Beteiligten etwas verändert und es uns gelingt die Ängste zu nehmen. Die in uns verankerten Bilder lassen sich nur schwer aufbrechen. Wir beurteilen das Schulsystem immer nachdem, wie wir es selbst erfahren haben und immer noch erfahren und können uns daher schwer vorstellen, dass man eine Gruppe unterschiedlicher Kinder ebenso gut unterrichten kann bzw. die Kinder sich in einer heterogenen Gruppe ebenso gut entwickeln können. Nur muss man den Unterricht, seine Einstellung, die Rahmenbedingungen ändern und das fällt unserem System, den handelnden Personen äußerst schwer. Dabei wäre das jetzt schon wichtig, denn ein bestimmtes Maß an Heterogenität hat ja derzeit schon in Innsbrucks Klassen Einzug gehalten und stellt uns ja jetzt schon vor die Frage, wie wir am besten damit umgehen sollen.

Was ist so schlimm an der Homogenisierung?

Schlimm ist, dass, auch bewusst, übersehen wird, dass von dieser Selektierung vor allem Kinder benachteiligt werden, die aus einfachen sozialen sowie ärmeren Verhältnissen oder bildungsfernen Schichten stammen, einen Migrationshintergrund, eine Behinderung oder eine partielle Lernschwäche wie z.B. Legasthenie oder Dyskalkulie haben, dem hohen Leistungsdruck nicht standhalten können oder von Prüfungsangst betroffen sind oder einen schweren Schicksalsschlag miterleben mussten. Nur die vermeintlich Starken dürfen Anteil nehmen am großen Kuchen der Möglichkeiten, die das Leben bietet. Benachteiligte dagegen werden ihrer Chancen beraubt.

Sind heterogene Klassen also besser?

Ja!!! Und das ist schon seit Jahrzehnten bewiesen und in einigen Schulen, unter anderem auch in Innsbruck, zu erfahren. Dem Gedankengebäude der Homogenität stehen außerdem zahlreiche Studien (siehe z.B. LAU-Studie, PISA-Studie…), wissenschaftliche Abhandlungen, Texte zahlreicher Pädagogen und Pädagoginnen, ErziehungswissenschaftlerInnen, Neurobiologen, LehrerInnen… bzw. die Erfahrungen zahlreiche Schulen  entgegen, die zu ganz anderen Schlüssen kommen. Es scheitert lediglich am Willen, am Einfluss jener, die Angst vor Veränderungen haben und an jenen, die sich im derzeitigen System arrangiert haben bzw. von diesem System profitieren.

Gibt es nicht ohnehin eine Vielfalt in der Innsbrucker Schullandschaft?

Die vorgebrachte Vielfalt, häufig von konservativen Kreisen vorgebracht, ist eigentlich keine Vielfalt im engeren Sinn, sondern ein vorgeschobenes Argument und eine Augenauswischerei. Schulen mit unterschiedlichen Schwerpunkten in einem Gebiet wie Innsbruck machen noch keine Heterogenität aus, sondern nur, wenn die Heterogenität in jeder Schule vorhanden ist. D.h. wenn in jeder Schule, in jeder Klasse ein gewisses Maß an Diversität zugelassen wird.

Der Innsbrucker Wald kann ja auch nicht als Mischwald bezeichnet werden, wenn die gesamte Nordkette mit Tannen und das Gebiet am Patscherkofel mit Fichten bewaldet ist. Ein Mischwald und damit ein gesunder Wald ist nur dann gegeben, wenn alle Wälder rund um Innsbruck eine Mischung unterschiedlicher Baumarten aufweist.

Wie müsste man den Unterricht gestalten?

Durch Methodenvielfalt, Binnendifferenzierung und individualisiertes Lernen. Weiters durch eine andere Einstellung der Lehrenden, vermehrte Diagnostik, differenzierte Unterrichtsmaterialien, kooperative Lernformen, zusätzliche Fördermaßnahmen, Ganztagesschulen, vorbereitete Räume, Kooperation und Zusammenarbeit eines multiprofessionalen Teams, selbstgesteuertes, entdeckendes und partizipatives Lernen sowie eines jahrgangs- und fächerübergreifenden Unterrichts. Dass dies von den Lehrkräften und vom System einiges abfordert, liegt natürlich auf der Hand. Dies umzustellen benötigt viele Jahre. Es lohnt sich aber und sollte endlich in Angriff genommen werden, auch für jene SchülerInnen, die in einem stabilen, fürsorglichen… Umfeld aufwachsen und keine schulischen Probleme haben, denn auch sie profitieren davon, und zwar mehr als im bisherigen System.

Wie viel Diversität verträgt eine Klasse/eine Schule?

Schwer zu sagen! Hängt vor allem davon ab, welche Rahmenbedingungen (z.B. behindertengerechte Ausstattung…) an der Schule vorherrschen und inwiefern die Lehrerschaft und Direktion bereits auf ihrem Weg sind (z.B. wie sehr sie sich z.B. mit dem Thema „Diversität“ auseinandergesetzt haben). Da es aber ja besser ist, in kleinen Schritten eine Veränderung herbeizuführen, damit so etwas auch gelingen kann, ist primär nicht das Tempo das entscheidende Kriterium. Entscheidend ist jedoch, dass endlich damit auf allen Ebenen begonnen wird!!! Und dazu fordere ich alle an Bildung Beteiligten im Namen aller Kinder Innsbrucks auf!!!

(Heterogenität wird in diesem Text als kultureller, sozialer, monetärer, geschlechtsspezifischer, leistungsmäßiger, emotionaler, motivationaler, affektiver, kognitiver und körperlicher Unterschied verwendet. Wenn also von heterogenen Klassen gesprochen wird, so sind Klassen gemeint, in denen ein gewisser Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund sowie aus bildungsfernen Schichten, armutsgefährdete Kinder, Mädchen und Buben, Kinder mit Lernschwächen, Kinder mit Behinderungen, problematischem Lernverhalten, Schicksalsschlägen… zusammen mit weniger belasteten Kindern zusammen lernen.)

Weiterführende Literatur:

Miriam Vock und Anna Gronostaj: „Umgang mit Heterogenität in Schule und Unterricht“;  Herausgeber : UTB GmbH; 1. Edition (3. April 2017)

Frank Müller: Praxisbuch Differenzierung und Heterogenität: Methoden und Materialien für den gemeinsamen Unterricht (Deutsch); Herausgeber: Beltz (15. August 2018)

Martin Fromm: Diversität in der Schule. Herausforderungen für Erziehung und Bildung in der Sekundarstufe. Herausgeber : UTB (18. Februar 2019)

Otto Hörmann: Heterogenität als Lernressource – jahrgangsgemischtes Lernen als Chance und Herausforderung. Zu finden unter: https://www.kphvie.ac.at/fileadmin/Dateien_KPH/Forschung_Entwicklung/KPZ-Elementar-Grundschul/Heterogenitaet_als_Lernressourche.pdf

Beate Wischer: Umgang mit Heterogenität im Unterricht – Das Handlungsfeld und seine Herausforderungen. Zu finden unter: https://bsi.tsn.at/sites/bsi.tsn.at/files/dateien/lz/Umgang%20mit%20Heterogenitaet.pdf

Heterogenität als Herausforderung für Schule und Unterricht. Was „individuelle Förderung“ in der Unterrichtspraxis bedeutet und wie sich Schulen – trotz schwieriger Rahmenbedingungen – auf den Weg machen können. Erschienen in der Zeitschrift „PodiumSchule“ der Bertelsmann Stiftung. Zu finden unter: https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/BSt/Publikationen/GrauePublikationen/Podium_Schule_1_11_Indiv_Foerderung.pdf

Prof. Dr. Klaus-Jürgen Tillmann: Kann man in heterogenen Lerngruppen alle Schülerinnen und Schüler fördern. Vortrag auf dem Symposium des VdS auf der DIDACTA am 1.3.2007 in Köln. Zu finden unter: https://bildungsserver.berlin-brandenburg.de/fileadmin/bbb/schule/lehren_und_lernen/schulanfang/tillmann07heterogenitaet_selektion_auch_GSOR071230__1_.pdf

Matthias Trautmann, Beate Wischer: Heterogenität in der Schule. Eine kritische Einführung. Verlag für Sozialwissenschaften, 2011

Erfolgsfaktoren für eine „gemeinsame Schule“. Strukturvergleich und Analysen anhand ausgewählter Länder. Von Kurt Schmid. Institut für Bildungsforschung der Wirtschaft. Forschungsbericht Nr. 178, Wien 2014. ZU finden unter: file:///C:/Users/MARKUS~1/AppData/Local/Temp/ibw-forschungsbericht-178.pdf